Eine Idee wurde zum Projekt mit ungeahnten Folgen.
Auf dem Friedhof, bei der Pflege des Grabes meiner Eltern kam mir die Idee. Ich fragte mich, was würden uns die all die Grabsteine erzählen, wenn sie sprechen könnten. Wie viel Unausgesprochenes würden wir hören. Erfreuliches, Aufregendes, Verheimlichtes erfahren, was Verstorbene mit ins Grab genommen nahmen.
Meine Fragen in der erwachsenen Enkelgeneration, bestätigte meine intensiven Recherchen mit dem allgemeinen und gesellschaftlichen Umgang mit dem Alter und den „Alten“. Das Leben rennt davon. Keiner hat mehr Zeit. Die „Alten“ ziehen sich zurück, wollen keine Belastung sein. Erleben es, dieses schleichende nicht mehr wahrgenommen werden. Als mir ein 92-jähriger sagte: „Wissen Sie, wir leben zwar noch, aber nicht mehr mit. Schon gar nicht interessiert jemand, wie wir lebten und was wir erlebten! Da wurde ich sehr nachdenklich. Und so begann 2019 für mich eine lange Reise in die Erinnerungen der Generation 85 plus.
Vor allem fand ich über das Projekt „Begegnungen mit Generationen – der besonderen Art“ dutzendmal meine These bestätigt: Alt sein hat nichts mit dem Geburtsdatum zu tun. Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben. Wie man alt wird, ist nicht eine Frage der Jahre – sondern der Blickrichtung.
Die Sammlung der Lebensgeschichten – von Alten und Jungen Menschen – wurde immer länger. Die Kontakte intensiver. Vor allem kristalliesierten sich die Ursachen für die Generationenkonflikte heraus.
Und dann kam das Frühjahr 2020. Durch Corona wurden unsere persönlichen Zusammentreffen unterbrochen. Niemand wusste wie lang diese Zwangspause geht. So nahm ich das gute alte Telefon zur Hilfe und hielt die Kontakte über diesen Weg aufrecht. Meiner Bitte, doch Stichpunkte zu machen, was in seinem gelebten Leben wichtig war, kamen einige nach. Ich tauchte ein in eine Welt voller einzigartiger Begegnungen und wurde von inspirierenden Geschichten und ungewöhnlichen Begegnungen überrascht. Faszinierend finde ich immer wieder, was z.B. ein Mensch mit 103 alles erlebte und wie er sich heute in unserer Zeit zurechtfinden muss.
Auffallend ist die Begeisterung, der Spaß und positive Lebenswille, der durch diese Begegnungen immer wieder aufkommt. Auch Senioreneinrichtunge bestätigten mir, wie wichtig es war, diese Kontakte – trotz Corona – nicht abbrechen zu lassen.
Nicht nur einer machte aus dieser Corona – Kontaktsperre eine Tugend, nahm meinen Tipp Stichpunkte zu machen ernst und tauchte dabei ein in sein Leben. So wurde Einsamkeit und Isolation überwunden. In einem Fall schrieb ein über 90-jähriger, und er schrieb und schrieb und schrieb… daraus wurden zwei dicke Ordner mit über 600 handgeschriebenen Seiten. Für mich rief es doch geradezu danach, diese vielen Seiten mit Buchstaben über ein langes, erfülltes Leben aus den Ordnern zu nehmen, um sie in ein außergewöhnliches Buch als Hinterlassenschaft für seine Familie zu verwandeln.
Gesagt, getan nach dem Motto „Wer wagt gewinnt“ wurde aus den Aufzeichnungen eines ganzen Lebens nun eine besondere Chronik für kommende Generationen. Gedruckt nur für die Familie und Freunde. Beim 95. Geburtstag des Seniors wurde das Buch der großen Familie präsentiert und jeder bekam ein, vom Jubilar und nun Autor, signiertes Exemplar.
Im wunderbaren Wohnstift, in dem der rüstige Senior seit über fünf Jahren lebt, fand eine weitere Festivität anlässlich seines Geburtstages und der Bucherscheinung statt. Zusammengekommen sind Männer und Frauen die zusammen ein paar 100 Lebensjahre hinter sich haben und an diesem Tag motiviert wurden um ab sofort mit einem zufriedenen, freudigen Blick auf ihr gelebtes Leben zu sehen.
Mit diesem Projekt wurde ich Zeugin einer Zeitreise durch Jahrzehnte voller Veränderungen, Herausforderungen und persönlicher Bestätigung. Durch die Gespräche tauchte ich ein in ereignisreiche Leben, auch in eine Reflexion über die menschliche Natur und die Bedeutung von Resilienz, Liebe und Hoffnung. Es erinnert daran, dass das Alter keine Grenze für das Streben nach Glück und Erfüllung darstellt. Ich stellte fest, dass jeder seine Geschichte hat. Das es nie zu spät ist, seine eigene Geschichte zu erzählen und, dass jedes Leben eine Quelle der Inspiration sein kann. RH