
Tagespost – Artikel vom 31.07.20025 Katholische Wochenzeitung für Politik und Kultur
Während sich die deutsche Welt den Kopf zerbricht über das Für und Wider einer Frau, die vielen Menschen aus guten Gründen völlig unbrauchbar für das Richteramt am Bundesverfassungsgericht scheint, scharrte Renate Hartwig mal wieder mit den Füßen, um das Thema auf ihre Art zu verarbeiten und vor allem: um Menschen aufzurütteln, denen möglicherweise nicht ganz klar ist, dass beim Thema Menschenwürde und Lebensrecht niemand so sehr leidet, wie diejenigen, die es letztlich wirklich betrifft: die Schwächsten; in diesem Fall Babys. „Wenn diese Frau Richterin wird, die sagt, es sei ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss zu denken, die Menschenwürde gelte überall, wo menschliches Leben existiert – dann müssen wir Frauen auf die Straße!“ sagte sie gegenüber der „Tagespost“.
Dass dies nicht bloß Worte sind, weiß jeder, der Hartwig kennt: Eine Powerfrau, die immer wieder für Gerechtigkeit, Wahrheit und Leben einsteht und sich auch Gehör verschafft. „Mutter Courage“ haben manche sie deswegen genannt. Passend zum Thema „Brosius-Gersdorf“ hat sich „Mutter Courage“ an die Neuauflage eines Buches gesetzt, das lange in der Vergessenheit sein Dasein fristete: Das Buch „Du hast nichts zu verlieren, außer deiner Angst“. Mit anderen Worten: Hab Mut, dich für Gerechtigkeit und Wahrheit einzusetzen. Hab Mut, dein Kind auszutragen. Hab Mut, gegen den Strom zu schwimmen. Hab Mut, auf dein Herz zu hören! Denn was ist es, das den Menschen daran hindert, offen für Recht und Wahrheit einzutreten? Ist es nicht eine wie auch immer geartete Angst vor Menschen, Reaktionen, Nachteilen – und seien es verlorene Wählerstimmen?
„So viel kostet unsere Freiheit, ich zahl es“
Hartwig stockte das Buch von 60 auf 160 Seiten auf und widmete ein Kapitel der Causa Brosius-Gersdorf – freilich aus ihrer persönlichen Sicht, die zeigt, wie sie mit Menschen verfährt, die das Leben nicht zu schätzen wissen. Sie schreibt: „Wie schon als junge Mutter stehe ich auch heute noch vor der unbeantworteten Frage, ob wir ein Land für Kinder sind.“ Dieselben Politiker und Experten, die unserer Gesellschaft ständig statistische Zahlen über „zu wenige Kinder“ vor Augen hielten, bastelten derzeit am Lebensrecht herum
Was Hartwig davon hält, kommt im Kapitel „Wenn ich mich entscheide, dann mit allen Konsequenzen“ deutlich zum Ausdruck. Ungeniert erzählt sie, wie sie mit 19 Jahren zum Abtreiben überredet werden sollte: Bei einem Treffen im Café sagte ihr damaliger Freund, er könne sich vorstellen, Vater zu sein, jedoch nicht jetzt. „Er kam mit Berechnungen über seine geplante Karriere. Eine Abtreibung sei – für uns beide – für die existenzielle Zukunft zwingend notwendig“, erzählt Hartwig in ihrem Buch. Er habe versucht, ihr klar zu machen, dass dieses „Problemchen“ einfach aus der Welt zu schaffen sei und legte ihr kurzerhand einen Umschlag mit 700 D-Mark und der Adresse einer „Engelmacherin“ auf den Tisch, begleitet von den Worten: „So viel kostet unsere Freiheit, ich zahl es.“
„Diskussion über Gleichberechtigung endet, wenn Würde des Menschen antastbar wird!“
Da hatte er die Rechnung allerdings ohne Hartwig gemacht, die ihn dafür kurzerhand mit einer klatschenden Ohrfeige bedachte. Sie nahm das Geld, zerknüllte den Zettel mit der Adresse noch vor Ort und verabschiedete sich mit den Worten: „Du hast die alte Formel vergessen, wer etwas rein gibt, muss damit rechnen, dass wieder etwas rauskommt. Was du von mir verlangst, kann und will ich nicht. Ich nehme jedoch das Geld für den Kinderwagen, da ist es besser angelegt.“ Und im Gespräch mit dieser Zeitung ergänzte sie: „Die Diskussion über Gleichberechtigung endet, wenn die Würde des Menschen antastbar wird!“
Jener Mann war keiner fürs Leben, sagt sie und erzählt, was sie auch im Buch schreibt: Angst vor der Zukunft fühlte sie nicht, nur ein unbeschreibliches Glücksgefühl. In Sichtweite des Cafés befand sich das „kleine Elisabethen-Krankenhaus“, in dem Hartwig geboren worden war. Dort kam wenige Monate später ihr Sohn zur Welt.
Im Einsatz für Schwächere
Diese kleine Episode aus dem Leben der heute betagteren Dame ist ein Beispiel von vielen, mit denen die Bestsellerautorin ihren Lesern Mut machen möchte, nicht einfach alles hinzunehmen. „Geht nicht gibt’s nicht“ lautet eines ihrer Lebensmottos oder besser: ihrer Lebenshaltungen, die sie von ihren Eltern geerbt und vorgelebt bekommen hat.
Schon in der Schule setzte sie sich für die Schwachen ein. Eine Zigeunerin, Rosa, kam neu in die Klasse. Niemand wollte mit ihr zu tun haben, weil Zigeuner stehlen und klauen würden, so die Vorurteile ihrer Klassenkameraden. Nur Hartwig setzte sich prompt neben sie und lud sie zum Spielen zu sich nach Hause ein. Als sie nicht kam, erzählte sie ihrem Vater davon. „Zwei Stunden später saß ich mit meinem Vater bei Rosa zu Hause. Rosa wurde wirklich meine beste Freundin“, schreibt Hartwig.
Ein anderes Mal kam ihr Vater ins Klassenzimmer und nahm sich den Lehrer ordentlich vor, der seine Tochter verspottet, geohrfeigt und an den Haaren gezogen hatte. Damit hatte Hartwig überhaupt nicht gerechnet, zumal sie kurz zuvor aus der Schule nach Hause gerannt war mit dem Willen, nie wieder dorthin zurückzukehren. Statt ihr zu helfen, wie sie es erwartet hatte, ermutigte sie ihr Vater jedoch, in die Schule zurückzugehen. Vor Schwierigkeiten laufe man nicht weg, hatte er ihr eingebläut, denn „sie laufen dir immer hinterher“.
Hartwig hat ein Kämpfer-Gen
Hartwig liegt die kämpferische Natur in der DNA. „Meine Eltern haben mir vorgelebt, was es heißt, aufzustehen und sich einzumischen“, sagt sie der „Tagespost“. Und dazu gehöre, wie jetzt in der Causa Brosius-Gersdorf, „unabdingbar das Lebensrecht“. Keine wissenschaftliche Verklausulierung tauge dazu, dieses Recht auszuhebeln! „Genau das steht uns bevor und deshalb gilt es für uns Frauen ohne Wenn und Aber dagegen JETZT aufzustehen.“ Dann setzt sie hinzu: Das Thema sei auch nicht erledigt, „wenn sie nicht Richterin wird. Als Hochschulprofessorin hat sie auch Einfluss“. Aufgeben und zuschauen seien keine Option.
So ermutigt Hartwig heute andere, ehrlich, gerecht und mutig zu sein und spricht mit ihrem Buch jedem, der es liest, zu: „Du hast nichts zu verlieren, außer deiner Angst“ – übrigens ein Satz, den ihr der Vater auf dem Sterbebett zuraunte, wenige Augenblicke vor seinem Tod. Hartwig höchstpersönlich hatte sich mit ihren 14 Jahren beim Oberarzt dafür eingesetzt, dass er ein Einzelzimmer bekam, wo er in Ruhe lesen und seinen Gedanken nachhängen konnte. Um den Aufpreis für das Zimmer zu bezahlen, arbeitete sie nach der Schule im Krankenhaus. „Geht nicht gibt’s nicht.“
Ihr Buch ist ein wunderbar erfrischender und ermutigender Beitrag (nicht nur) für die Diskussion um Brosius-Gersdorf und die gefährliche Entwicklung, die zu erwarten ist, wenn Menschenwürde und Lebensrecht voneinander entkoppelt würden. Es ist darüber hinaus auch Einladung und Anstoß, sich zu fragen, ob man sich duckt und nachgibt oder für das Gute kämpft, auch wenn es etwas kostet.
Nicht das Gescheite tun, sondern das Bessere
Die persönlichen Situationen aus dem Leben der Autorin machen viel Mut. Der Witz und Humor, mit dem die Autorin ihre eigene Geschichte betrachtet und ihr Optimismus für die Zukunft stecken an. Wie wahr, was Hartwig schreibt: „Das Rechte erkennen und es nicht tun, ist Mangel an Mut“; ein Satz von Konfuzius zu Beginn eines ihrer Kapitel. Jedes Kapitel wird mit einem Zitat von klugen Denkern aus der ganzen Welt eröffnet, Sätze von Marcus Aurelius, Novalis, Erich Kästner und anderen, die man auswendig lernen und sich zu eigen machen sollte. So findet sich dort auch ein Zitat von Adolph Kolping: „Der Mut wächst immer mit dem Herzen und das Herz mit jeder guten Tat.“
Hartwigs Mut hat schon so manches bewegt. Für sie heißt Mut: „Jetzt erst recht!“ Nicht streitlustig, sondern mit offenem Visier kämpfte sie beispielsweise für Spielplätze, „um gesellschaftliche Werte, gegen die völlig verrückte Bildungspolitik, gegen den Raubzug der Konzerne im Gesundheitswesen und immer wieder gegen offensichtliches Unrecht“, zählt sie selbst auf. „Und ja, ich kämpfe mit harten Bandagen, wenn es um Bürgerrechte und die Benachteiligung von Menschen geht.“
Mit Hartwig gibt es immer Licht am Ende des Tunnels
Im aktuellen Fall geht es um die Kinder, die, kaum gezeugt, wieder aus dem Leben katapultiert werden. Menschen, die wer weiß welche wichtige Aufgabe in dieser Welt hätten übernehmen sollen – die jetzt aber fehlen. Das Buch ist ein Aufruf zum Einsatz für Menschenwürde, Lebensrecht und echte Kommunikation. Mit Hartwig gibt es immer Alternativen, immer Licht am Ende des Tunnels. Dies ist ihre tiefste Überzeugung, ungeachtet des Spotts und Hasses, der auch ihr entgegengeschlagen ist. Aber sie wurde gehört.
Im Gespräch erzählt sie: „Eines möchte ich hier festhalten: Ich war beruflich mehrmals in einer Männerdomäne. Noch nie wurde mir etwas verweigert, streitig gemacht, weil ich eine Frau bin. Auch privat gab und gibt es bei mir keinerlei Diskussionen, was Frauen- oder Männerarbeit ist. Glück gehabt, sagen einige. Ich sage: Klar und unmissverständlich Standpunkt vertreten – funktioniert auch.“
Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um Brosius-Gersdorf, die scheinbar keine Alternative zu legalisierten Spätabtreibungen sieht, sollte man ausrufen: „Geht nicht gibt’s nicht!“ Hartwig legt auch hier den Finger in die Wunde, aber nur, damit die Wunde heilen kann, die schlechten Keime herauskommen und ersetzt werden durch das Gute. „Du hast nichts zu verlieren, außer deiner Angst“ – Hartwig spricht aus Erfahrung. Sie zeigt, wie aus Tiefpunkten Höhepunkte und Kraftquellen nicht nur für sich selbst werden. Denn, wie sagte noch der verstorbene österreichische Schriftsteller Karl Kraus, den auch Hartwig zitiert: „Man muss nicht das Gescheite tun, sondern das Bessere.“
Renate Hartwig: Du hast nichts zu verlieren, außer deiner Angst,
Hamburg: Tredition Verlag, 2025, 160 Seiten, 15, –
Artikel: Dorothea Schmidt ist freie Journalistin und Mitglied in der Gemeinschaft Emmanuel. verheiratet und Mutter von zwei Kindern.
