Ich lernte einmal eine junge Frau kennen. Damals war sie Anfang zwanzig. Seit einem Unfall in der Schule saß sie im Rollstuhl. Das Modell, das ihr die Kasse gezahlt hatte, war für sie eine Katastrophe. Sie wohnte in einer Wohnung im zweiten Stock, und solange sie drinnen blieb, gab es keine Probleme. Aber wenn sie vor die Tür wollte, musste sie immer jemanden bitten, ihr in den Aufzug zu helfen und sie auf die Straße zu schieben. Mit dem Bus fahren war für sie unmöglich. Für all das hatte sie einfach nicht genug Kraft in den Armen. Ich unterstütze ihren Wunsch, dass sie selbständig leben kann. Dass sie wieder ein besseres Lebensgefühl findet und unter andere junge Leute kommt. Seit dem Unfall haben sich aber die Kassen gestritten, wer für sie bezahlen soll. Jahr für Jahr ging es zwischen der Unfall- und der Krankenkasse hin und her, während sie isoliert in der Wohnung saß. Darum habe ich mich für die junge Frau engagiert und ihre Geschichte auf einer Veranstaltung meiner Initiative «Bürgerschulterschluss» erzählt. Der Effekt war, dass wir auf einmal eine Diskussion hatten und ein pensionierter Beamter mich fragte, ob die mit 23 wirklich so einen teuren elektrischen Rollstuhl brauche. Ich habe gefragt: «Wieso denken Sie, weshalb sie ihn nicht braucht? Nicht bekommen sollte?» «Es gibt ja auch billigere Rollstühle!», war seine Antwort. Da habe ich gekontert, weil mir fast der Kragen geplatzt ist:
«Was macht ihr denn mit euren Bonusheften? Braucht ihr diese Kassenzugaben?» «Frau Hartwig, ich brauch kein Bonusheft, ich bin privat versichert», sagte der Beamte.
Mein Adrenalinpegel stieg weiter: «Was gibt das jetzt? Eine neue Auflage der Geschichte ‹Wir sind die besseren Patienten›? Haben wir nicht schon genug an gravierenden Unterschieden?
Mag ja sein, dass zu Ihnen der Herr Doktor freundlicher ist, mehr Zeit für Sie verwendet, Ihnen besser zuhört und nicht laufend auf seinen PC sieht, um das Budget nicht aus dem Auge zu verlieren. Bilden Sie sich ja nicht ein, es gehe dabei um Sie! Es geht dabei um die Bezahlungsmodalität Ihrer Behandlung, da Sie als Beamter als Privatpatient in der Praxis aufschlagen! Und was denken Sie, wer Ihre Beihilfe bezahlt? Wir, die Masse der Steuerzahler! Also, sollen wir nun auf dieser Basis weiter diskutieren? Wer der‹bessere›Patient ist? Wem was eher zusteht? Denn Sie als Beamter kommen als Privatversicherter mit Beihilfe gar nicht in so eine Situation wie diese junge Frau!
Ja, ich war in dem Moment echt sauer! Vielleicht weil es zu oft vorkommt, dass wir so über einen anderen Menschen diskutieren, zum Beispiel wie eben in dem Fall, ob die junge Frau einen gescheiten Rollstuhl bekommen darf oder nicht. Und während sie in der Runde über andere diskutierten, haben sie weder als Privat- noch als Kassenpatient daran gedacht, wie ihre in Anspruch genommenen Vorteile finanziert werden. Vorteile und Geschenke, Rabatte und Boni, Pizzaessen und Gartenscheren – das alles geht. Aber ein elektrischer Rollstuhl ist plötzlich unnötiger Luxus, und da muss man genau hinschauen. Mit beiden Händen in den Topf reinlangen wie der Arzt in den Karton mit Kugelschreibern.
Unser Egoismus zeigt sein Gesicht, indem wir solche Diskussionen führen wie oben: Braucht die junge Frau diesen Rollstuhl? Was bitte treibt uns in der Überlegung? Der Mensch? Seine Lebenssituation? Oder nicht eher die Angst, zu kurz zu kommen? Diesen Gedanken müssen wir weiterdenken, denn dieses Denken vergiftet unsere Gesellschaft an einer empfindlichen Stelle. Wenn wir schon Menschen nichts gönnen, die für ihre Krankheit nichts können, was machen wir dann mit denen, die in unseren Augen selbst schuld an ihrem Leid sind?” (..)
Fortsetzung folgt: „Wer kriegt zu Recht unser Geld?“