Nachdem dritten Advent ist noch ein bisschen Zeit zu überlegen, ob der im Raum stehende familiäre ungeklärte Zwist, vergeben und vergessen wird. Genug Zeit, um in den Blick zu nehmen, was an Weihnachten stören könnte. Oder schon jetzt sagen, was beim Familienfest in Streit ausarten könnte? Wer lieber etwas Schönes zwischen den Jahren plant, sozusagen als Ausgleich was schlecht laufen könnte, drückt sich vor Klärung. Und das nicht nur an Weihnachten!
Das Schicksal geht mit uns um, wie mit einer Pflanze: Es macht uns durch kurze Fröste reifer, sagte schon Jean Paul. Es gab zu seinen Lebzeiten 1753 – 1825 bereits diese Fragestellungen, zum Thema Vergeben oder Vergessen!
Was wir sehen, ist oft nur ein kleiner Teil von dem, was es wirklich ist. Doch es gibt sie, Menschen und damit verbundene Lebenssituationen, von denen eine lebenslange Prägung ausgeht. Großzügig wird von Vergebung gesprochen, wenn es einen selbst nicht betrifft.
Nachdem ich schon einige Zeit auf der Welt bin, tatsächlich gravierende Lebenssituationen meistern musste, kenne ich dieses innere Zerreisspiel vonwegen, das kann ich niemals vergeben…und schon gar nicht vergessen! Ich lernte vergeben! Was nicht heißt auch vergessen. Wir sind geprägt von Schlüsselerlebnissen. So manche Situation kann und will ich auch nicht vergessen. Vielleicht als Schutzschild um Enttäuschungen vorzubeugen. Nur habe ich gelernt, wer enttäuscht wird, wurde getäuscht. Und da habe ich angefangen das Rad zu drehen, indem ich – durch Erfahrungen- privat meine Erwartungen komplett reduzierte.
Geprägt durch Sozialarbeit weiß ich jedoch sehr genau, ohne Vergebung können gestrauchelte Menschen gar nicht Fuß fassen. Resozialisierung ist möglich. Um es zu beweisen, bin ich oft große Risiken und waghalsige Situationen eingegangen. Und es war genau diese Zeit mit Menschen, denen niemand vergeben hat, die ich nicht missen möchte. Die ich auch nie vergessen will und werde.
Gerade zum Thema Vergebung passt diese Erzählung von John Kord: Das weiße Band im Apfelbaum
„Einmal saß ich bei einer Bahnfahrt neben einem jungen Mann, dem sichtlich etwas Schweres auf dem Herzen lastete. Schließlich rückte er dann auch damit heraus: Dass er ein entlassener Sträfling und jetzt auf der Fahrt nach Hause sei. Seine Verurteilung hatte Schande über seine Angehörigen gebracht, sie hatten ihn nie im Gefängnis besucht und auch nur ganz selten geschrieben. Er hoffte aber trotz allem, dass sie ihm verziehen hatten. Um es ihnen aber leichter zu machen, hatte er ihnen in einem Brief vorgeschlagen, sie sollten ihm ein Zeichen geben, an dem er, wenn der Zug an der kleinen Farm kurz vor der Stadt vorbeifuhr, sofort erkennen könne, wie sie zu ihm stünden. Hatten die Seinen ihm verziehen, so sollten sie in dem großen Apfelbaum an der Strecke ein weißes Band anbringen. Wenn sie ihn aber nicht wieder daheim haben wollten, sollten sie gar nichts tun, dann werde er im Zug bleiben und weiterfahren, weit weg – Gott weiß, wohin.
Als der Zug sich seiner Vaterstadt näherte, wurde seine Spannung so groß, dass er es nicht über sich brachte, aus dem Fenster zu schauen. Ein anderer Fahrgast tauschte den Platz mit ihm und versprach, auf den Apfelbaum zu achten. Gleich darauf legte er dem jungen Sträfling die Hand auf den Arm. „Da ist er“, flüsterte er, und Tränen standen ihm plötzlich in den Augen, „alles in Ordnung. Der ganze Baum ist voller weißer Bänder.“
In diesem Augenblick schwand alle Bitternis, die sein Leben vergiftet hatte. „Mir war“, sagte der Mann später, „als hätt’ ich ein Wunder miterlebt. Und vielleicht war’s auch eines.“