Sonntagsgedanken – Tischgespräche

Abtauchen und Abschalten war angesagt. Uns zog es, wie so oft, an die Nordseeküste. Hier sortieren wir unsere Ideen im Kopf. Der Wind, die Luft, Ebbe und Flut, für uns ideal. Wir genießen dort die Ruhe und die Weite. Es heißt ja nicht umsonst, hier sieht man schon am Montag, wer am Freitag zu Besuch kommt.

Es ist Oktober und im kleinen Kaffee direkt am Strand, bereitet man das Saisonende vor. Die Tische und Stühle auf der Terrasse sind bereits im Winterquartier. Der Wind pfeift und peitscht bei Flut die Wellen an den Strand. In der Gaststube wird zusammengerückt.

Swantje, alles andere als eine „Kühle aus dem Norden“, bringt uns Friesentee mit Kantis und Sahne. Mein Mann fragt gleich nachdem speziellen Apfelkuchen, für ihn ein überragender Gaumengenuss, Rezept stammt von Swantjes Großmutter.

Im Ofen knistert das Holz und es ist wie Nachhause kommen. Wie immer setzen wir uns an den kleinen Tisch am Fenster. Begeistert sehen wir den Ringelgänsen zu, wie sie ihre V-Formationen fliegen und tapfer dem Wind trotzen. 

Die vier Damen am runden Tisch unterhalten sich angeregt. Selbst jemand mit beginnendem Hörverlust, versteht jedes Wort. In dem Kuchenstück von einer der Damen steckt die Gabel senkrecht. Während sie redet, dreht sie die Gabel im Kuchen, ohne auch nur ein Stück zu essen. Es ist unüberhörbar, hier haben sich Freundinnen verabredet, um ohne ihre Partner die Probleme mit ihren erwachsenen Kindern zu besprechen.

Nacheinander reden sie sich ihren Frust von der Seele. Als Fazit bleibt bei jedem, der ungewollt mithört, diese unangenehme Stimmung hängen, die es in diesen Familien gibt. Es hört sich an, als haben sich deren Kinder zeitlich abgesprochen. Der Drang, die Wohnung oder das Haus, in dem die Eltern leben, an die Kinder zu überschreiben wird immer massiver. Es scheint, dass es das ganze Jahr schon um das Thema geht. Und nun, da es wieder auf Weihnachten zu geht, wird es fociert. Es flattern spezielle Wünsche ins Haus. Als erstes kommt, wir wollen nur eins, dass es bis zum Ende des Jahres geregelt ist. Was? Das mit dem Umschreiben im Grundbuch. Zeitgleich immer verbunden mit Ratschlägen, was Eltern in diesem momentanen Alter zu tun haben.

Swantje wird von einer der Damen ins Gespräch einbezogen. „Wie sieht es denn um Weihnachten hier oben aus? Bekommt man ein Haus zu mieten von Weihnachten bis Dreikönig?“

Die Dame mit den hochgesteckten Locken, sagt klar um was es ihr geht: „Mein Ziel ist es, diese Weihnachten den jährlichen Heucheleien zu entgehen. Mein Mann braucht kein neues Kreuzrätselbuch und ich fang garantiert nun nicht mit dem Stricken an. Egal wie schön der Korb ist, in dem sie mir die Wolle andrehen wollen.   

In dem Moment gehen die Gespräche durcheinander. Es geht um die vergangenen Monate, immerhin habe das Jahr zwölf Monate, in denen elf Monate niemand Zeit findet zu einem Besuch mit einem echten, ernsten Gespräch. Auffallend ist die Übereinstimmung als es um fehlende Wahrnehmung der Gefühlswelt geht. Um dieses mit Händen greifbare Desinteresse, was das tägliche Leben, oder die Sorgen der Senioren betrifft.

Und als die Dame, mit den ganz kurzen Haaren, denen anzusehen ist, sie sind ganz neu gewachsen, anfängt zu erzählen, wird es ganz ruhig in dem Gastraum. Sie erzählt, von dem Besuch der Kinder im Krankenhaus, in dem die Schwiegertochter sich intensiv mit der Frage beschäftigte, wie der Durchschnitt der Lebenserwartung nach einer solchen Krebs OP sei!? Die Dame mit den kurzen Haaren richtet ihr elegantes Tuch, dass sie umgelegt hat, und sie erzählt diesen Moment ohne Vorwurf in der Stimme. Doch jeder der des Hörens und Fühlens fähig ist, weiß was dieser Besuch im Krankenhaus, bis heute mit ihr macht.  

Die Dame, mit den rot gefärbten Haaren versucht die Stimmung aufzulockern, in dem sie zurück in das Thema geht, Wohnung und Haus seien zu groß. „Ich würde ja mit mir reden lassen, was das Umschreiben angeht. Doch höre ich immer wieder diese Zwischentöne, die sich bei mir anfühlen, wie die Vorboten der Entmündigung. Ich trau dem Frieden nicht und bei der Frage nach dem „Wie geht es dir“ fehlt für mich der unausgesprochene Satz „Hoffentlich gut, damit wir nicht belastet werden.“ Allgemeines Nicken begleiten die Erklärungen zur Lage in den heimischen Kernfamilien.

Und dem Gedanken, hier oben an der Nordseeküste zusammen mal frohe Weihnachten zu feiern, dem können nun alle etwas abgewinnen. Denn, die Berichte hören sich rundum bei weiteren Bekannten, auch nicht positiver an.

Einen Moment war ich gewillt, mich am Gespräch zu beteiligen. Die Tische standen so nah beieinander, ich hätte ohne Mühe sofort Teil dieser Runde sein können. Ihnen einfach sagen, dass es ein breites Phänomen ist, was sie erleben, dass es keine Einzelfälle sind, was sie erzählen. Wie es sich kurz danach herausstellte, war es für mich richtig, einfach gar nichts zu sagen.

Denn die Dame, die den Kuchen nicht gegessen hat, sondern das Kuchenstück mit der Gabel massakrierte, griff in ihre Tasche und sagte laut und deutlich: „Wir sind noch nicht soweit, uns die Butter für das Brot einteilen zu lassen. Es gibt sie, die Fälle in denen es zu spät ist und nichts mehr zu machen ist. Gar nichts. Selbst beim Sarg kaufen wird noch gefeilscht, damit ja viel übrigbleibt. Also können wir das heute auf den Punkt bringen: Augen auf vor dem Unterschreiben und dem Umschreiben.“

Ich musste innerlich lachen, dachte mir, ist echt ein guter Spruch. Dann hörte ich:

„Hier steht es schwarz auf weiß was passieren kann“ und ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Denn aus der Tasche zog sie mein Buch „Erbschleicher und sonstige Verwandte“!! Und wie genau sie es gelesen hat. Sie konnte einige Passagen fast auswendig. Und es war mir, als sei unsere eigene Enttäuschung über das Erlebte, nun erträglicher, denn heute erlebte ich inkognito in einem kleinen Kaffee am Nordseestrand, was auf der ersten Seite in meinem Buch steht, ist überall gleich wahr. „Die Gier ist niemals satt, bis sie das Maul voll Erde hat!“

Ich sagte bewusst nichts, freute mich zu erleben, dass es richtig war alles aufzuschreiben. Vor allem, dass mein Buch den Weg findet zu denen die beim Lesen erkennen, sie sind nicht allein, ihr Fall ist kein Einzelfall!

Ich hörte nur zu, und spürte wie wichtig es ist, die Tabus der Lügengebäude innerhalb von Familien anzusprechen. Beim Gehen blieb mein Mann am Tisch der Damen stehen und sagte: Ich kenne das Buch, übrigens haben Sie gesehen, es ist ein Tatsachenroman. Es stimmt alles, nur die Namen nicht. Prompt kam die Frage, „woher wissen sie das?“ Ich stand bereits in der offenen Türe und hoffte meinem Mann fällt jetzt was ein, dass ich unerkannt gehen kann. Nichts erklären, nichts erzählen, nichts sagen muss, wie dieses Unglaubliche geschehen konnte. Was uns bis heute umtreibt. Was diese Situation, mit den alten Eltern emotional gemacht hat. Mein Mann fing meinen Blick auf und nachdem wir die nonverbale Kommunikation beherrschen, gab er die richtige Antwort: „Ich war bei einer ihrer Lesungen, da sagte sie es. Sie können ihr auch schreiben. Soviel ich weiß, sie beantwortet alle Zuschriften.“   

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