Frau Doktor! Die Kassen sind krank! Fortsetzung 22 aus meinem Buch “Der goldene Skalp”

Ich möchte mit Ihnen jetzt eine kleine gedankliche Reise machen. Vielleicht gehen wir zusammen ein Stück in unserer Vorstellung! Ich möchte nämlich, dass Sie sich vorstellen, ein niedergelassener Arzt oder eine niedergelassene Ärztin zu sein. Vielleicht sind Sie es ja, dann brauchen Sie gar nicht so viel Fantasie. Der Tag war anstrengend, und Sie liegen auf dem Sofa mit einem Buch in der Hand. Plötzlich klingelt Ihr Handy. Sie haben Bereitschaftsdienst. Also Buch aus der Hand und Gespräch annehmen. Es meldet sich Max Mustermann, er ist etwas aufgeregt. Nach diversen Entschuldigungen, dass er so spät noch anruft, kommt er zur Sache: «Frau Doktor, Sie müssen dringend vorbeikommen! Hier ist etwas ganz komisch!» Sie schauen auf die Uhr und fragen sich, ob es wirklich sein muss, jetzt noch mal vor die Tür zu gehen. «Was ist denn los?» «Meine Krankenkasse ist krank geworden!» «Wie, krank geworden?» Sie verstehen nicht so richtig. «Liegen alle Sachbearbeiter mit Grippe im Bett, oder was?» «Nein, nicht so!», meint er,«sie verhält sich komisch. Irgendwie ist sie nicht sie selbst!» Er beschreibt Ihnen kurz, was bei ihm los ist. Sie legen auf und seufzen. Buch und Sofa werden hier auf Sie warten müssen. Was Max Mustermann Ihnen erzählt hat, klingt nach einer ernst zu nehmenden Persönlichkeitsstörung. Sie ziehen die Schuhe an und nehmen die Autoschlüssel vom Schrank. Es hilft nichts! Die kranke Kasse müssen Sie sich jetzt persönlich anschauen. Dringend.

Die Kassen sind «schizofirm» geworden

Bevor Sie jetzt tatsächlich dieses Buch zuklappen und ins Auto springen, um zur Kasse zu brausen, beenden wir lieber unser   kleines Gedankenexperiment. Zumindest den Teil mit dem Bereitschaftsdienst. Denn die gesetzlichen Krankenkassen haben tatsächlich erhebliche Identitätsprobleme, und weder sie noch die Mitglieder scheinen zu wissen, wozu die Kassen eigentlich da sind. Anfang des Jahres saß ich mit einer jungen Frau und einem jungen Mann zusammen und habe ihnen von meinen neuen Buchplänen erzählt. Sie haben sich meine Kritik an den Auswüchsen unseres Gesundheitssystems und den Geldhortenden Krankenkassen angehört.

Man muss sich ja nur mal vor Augen führen, dass die Kassen gerade auf einem gigantischen Geldberg sitzen. «Wie kann es sein, dass die Kassen insgesamt 27 Milliarden Euro an Reserven angespart haben?», fragte ich die beiden. Die junge Frau hatte in der Vergangenheit Firmen in Wirtschaftsdingen beraten. Wegen ihrer Erfahrungen in der Unternehmensberatung, so eröffnete sie mir, könne sie meine Kritik und die Frage nicht ganz nachvollziehen. «Jedes Unternehmen darf Gewinn machen und Rücklagen bilden!», sagte sie. In dem Moment habe ich erst kapiert, wie sehr sich oben und unten, Norden und Süden in unseren Köpfen verdreht haben. Wie sehr wir das Wort«Marktwirtschaft»schon auf unsere Nervenzellen getackert haben. Wir Kassenpatienten glauben, dass uns Unternehmen versichern, die am Markt Wind und Wetter trotzen müssen. Aber das stimmt nicht. Gesetzliche Krankenkassen sind keine Unternehmen. Sie sind (noch) Körperschaften des öffentlichen Rechts. Universitäten, Kirchen, anerkannte Freikirchen, das Bayerische Rote Kreuz und gesetzliche Krankenkassen gehören zu einer Rechtsfamilie. Und ihr Charakter ist per Gesetz in Deutschland festgeschrieben. Sie müssen nicht die Steuern zahlen, die Unternehmen bezahlen müssen. Dafür dürfen sie nicht nach Gewinn streben und nur sehr begrenzt Rücklagen bilden. Das wissen aber wohl eher wenige. Denn die Krankenkassen gebärden sich seit Jahren wie privatwirtschaftliche Unternehmen. Das sind sie aber nicht. Darum müsste man ihnen eigentlich Schizophrenie attestieren. In diesem Fall sollte man allerdings von «Schizofirmie» sprechen, dem unbändigen Verlangen, eine echte Firma zu sein.

Über der Zentrale der Barmer GEK in Wuppertal wütete diesen Winter ein Sturm und riss das «G» aus dem Schriftzug mit sich. Plötzlich stand oben auf dem Dach nur noch «BARMER EK», also die Abkürzung für die Firmierung eines eingetragenen Kaufmanns namens Barmer. Der Sturm hatte damit nur das vervollständigt, was die Kassen selbst an werbetechnischem Getöse von sich geben. Nur Begriffsspielerei? In einem Interview mit dem FOCUS formulierte der Vorstandsvorsitzende der Barmer GEK, Christoph Straub, 2012 sehr selbstbewusst, was es heißt, eine unternehmerische Krankenkasse zu sein: «Wir sind kundenorientiert, stehen seit 1996 im Wettbewerb und verhandeln hart mit Ärzten, Kliniken oder Apotheken. Nebenbei bewegen wir damit Leistungsausgaben von mehr als 170 Milliarden Euro pro Jahr.» Tja, in der Tat, 170 Milliarden Euro sind eine beeindruckende Summe. Die muss sogar noch mal nach oben geschraubt werden. 2013 gaben die Krankenkassen geschätzt 189 Milliarden Euro aus.

Was für ein Wachstum innerhalb so kurzer Zeit! Im Februar 2014 hat die Barmer GEK sich ganz auf die Entwicklung der Zukunft eingestellt, indem jede fünfte Stelle abgebaut werden soll, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Und die Nachrichtensprecherin gab dies mit der Aussage «Das Unternehmen Barmer GEK plant Stellenabbau» an die Öffentlichkeit weiter. Sag ich doch, es grassiert die Schizofirmie! Der deutsche Technologiekonzern Siemens ist zweifellos eines der wichtigsten Elektronikunternehmen weltweit und erwirtschaftete 2012 dagegen einen läppischen Jahresumsatz von 73 Milliarden Euro. Die Krankenkassen bewegen also pro Jahr fast das Dreifache des Umsatzes von Siemens. Wenn man schon so viel Umsatz wie ein DAX-Konzern macht, dann muss man sich auch das Selbstbewusstsein zulegen. «Repräsentativität» ist das Zauberwort, sprich: So ein Kassen-Unternehmen muss was hermachen!

«[…] und immer, in jeder Stadt, steht ein großer, prächtiger, neuer Bau, den man grade errichtet hat. Und dann frag ich. Und in jeder Stadt, die einen turnenden Schutzmann hat, sagt er auf wie das brave Kind in der Klasse: ‹Das? Ist die neue Ortskrankenkasse.›»

Diese Zeilen hat Kurt Tucholsky bereits 1930 geschrieben, also kann man wohl feststellen, dass ein gewisser Hang zum Protz den Krankenkassen bereits in die Wiege gelegt worden ist. 83 Jahre später hat der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen ein neues Domizil in Berlin bezogen. Das Argument war: Bisher seien die Angestellten auf drei Standorte in der deutschen Hauptstadt verteilt gewesen. Der Verband machte sich auf die Suche und wurde fündig: ein großes Haus in Berlin-Mitte. Zuerst zur Miete und dann zum Kauf. Das sei wirtschaftlicher als mieten, meinte der Verband, und der Gesundheitsminister nickte den Deal ab. Die Presse schlug Alarm: 70 Millionen Euro Beitragsgelder werden in der Spree versenkt. Kurt Tucholsky dazu:

«So ein großes Haus …! Sieh mal einer an …! Ein riesiger Kasten. Ja, wer so kann! Das tut jede Verwaltung, die auf sich hält; die Herren haben wohl sehr viel Geld.

Das haben sie tatsächlich, und wer so viel Geld vom Beitragszahler überlassen bekommt, der verliert anscheinend das Gefühl für sparsames Wirtschaften. Der Bundesrechnungshof durchleuchtete 2011 die Mietverträge von gesetzlichen Krankenkassen. Da wurde kräftig zu viel bezahlt, der bekannt gegebene Schaden belief sich für die Beitragszahler auf 14,1 Millionen Euro. Und so ist es gekommen: Die Kassen haben sich großzügige Büroflächen gemietet und dafür einen ortsunüblichen Preis bezahlt. In einem Fall war klar, dass die Kasse nicht einmal die Hälfte der gemieteten 18.000 Quadratmeter braucht. Aber sie klotzen lieber, als zu kleckern, und schlugen zu. Die weiteren Konditionen: Der Mietvertrag lief fünfzehn Jahre, und es gab kein ordentliches Kündigungsrecht.

Meine sehr verehrten Damen und Herren Kassenmanager, ich versuche es Ihnen hier schonend beizubringen, aber so offen müssen wir sein: Sie wurden dermaßen über den Tisch gezogen, dass Ihnen eigentlich der Schädel dröhnen sollte, weil Sie so von der Tischplatte gesegelt sind. Autsch! Die Vermieter werden sich wahrscheinlich ihre Versichertenkarten vergoldet und in ihren Büros eingerahmt haben. Eine andere Kasse hatte beim selben Projektentwickler großzügigst zugeschlagen und dann noch versucht, die leeren Flächen unterzuvermieten.

Leider waren die Mieter klüger als die Kasse und zahlten nicht die horrenden Preise. Der Bundesrechnungshof empfahl den Kassen deshalb höflich, Nachhilfestunden beim Bundesversicherungsamt zu nehmen und den Kontrolleuren die Mietverträge vor Unterschrift vorzulegen. Bisher hatte die höchste Kontrollbehörde die Kassen nur darum gebeten, und allzu oft sind diese jener freundlichen Bitte nicht gefolgt, bemängelt der Bundesrechnungshof. «Mögliche Schadensersatzansprüche gegen Vorstand und Verwaltungsrat der Krankenkassen können bereits verjährt sein, wenn die zuständige Aufsichtsbehörde von den Mietverträgen erfährt», schrieben die Rechnungsprüfer. Aber diese Geschichte ist gleichzeitig ein Lehrbuchbeispiel für die Kontrolle der Krankenkassen in Deutschland.

Der Bundesrechnungshof darf höflich mahnen, entscheiden tun andere. Hier das Bundesgesundheitsministerium, und das meinte, eine Vorlagepflicht für Mietverträge sei nicht erforderlich. Das hat sich erst 2012 geändert. Wenn es um Beraterverträge geht, waren sie ähnlich spendabel wie bei den Mietverträgen. Zwischen 2000 und 2003 ist von 50 Millionen Euro Versichertenbeiträgen für externe Beraterverträge des AOK-Bundesverbandes die Rede, allein die Beratungsfirma McKinsey habe anno 2000 über 28 Millionen Euro kassiert. Dies wurde bereits 2004 in der Sendung FAKT thematisiert! Und? Hat sich was geändert? Die Herren Kassenmanager wirtschaften sehr großzügig mit unseren Beiträgen, und manchmal hat man den Eindruck, dabei handelt es sich um Spielgeld! Sie selber machen dabei natürlich auch keinen schlechten Schnitt. Zum Beispiel hat der ehemalige stellvertretende Vorstandsvorsitzende vom AOK Bundesverband, Dr. Hoberg, sehr gut für sich verhandelt. Er bekam als Nachfolger seines vormaligen Chefs Sing auf dem Posten des AOK-Vorstandsvorsitzenden Baden-Württemberg mit Dienstantritt am 1.10.2004 einen Gehaltsaufschlag von 28 Prozent zu den Bezügen seines Vorgängers.

Na ja, es handelt sich ja lediglich um Versichertenbeiträge, damit kann man als «Gesundheitskasse» offenbar nach Gutsherrenart umgehen, wie man will. Es interessiert wohl niemanden. Und die Versicherten erfahren wie üblich ohnehin nichts davon. Wer fragt die schon? Da werden aus Geschäftsführern über Nacht Vorstandsvorsitzende wie in einer börsennotierten Aktiengesellschaft und erhalten ein stattliches Grundgehalt samt einer Bonuszahlung, die deutlich über dem jährlichen Durchschnittsgehalt der Beitragszahler liegt. Wofür gibt es die fünfstellige Gutschrift? Dafür, dass die Kasse einen Überschuss erwirtschaftet? Kassen begründen die Sonderzahlungen an ihre Vorstände mit keinem Wort. Und die Aufsichtsbehörden – wie das Bundesversicherungsamt, die Landessozialministerien und das Bundesgesundheitsministerium – schweigen. Schamlos bedienen sich Kassenchefs auch bei Abfindungen, etwa wenn ihre Körperschaften fusionieren. Der Präsident des Bundesrechnungshofs, Dieter Engels, kritisierte vor vier Jahren: «Wie manche Kassen mit dem Geld der Versicherten umgehen, habe ich mir nicht vorstellen können.» Zu den Kassenfusionen sagt er, da gebe es «Deals unter den Beteiligten, da bekommt ein Prüfer, der sie aufdeckt, graue Haare». Leider machten die Prüfer diese Deals nicht öffentlich, und die Beitragszahler blieben, abgesehen von vagen Andeutungen, unwissend. Bekannt sind dagegen andere Methoden der Selbstbedienung. Wieder einmal geht es darum, noch mehr Geld zuverdienen. In der AOK gibt es zum Beispiel Patenschaften für andere AOKs. Die AOK ist die einzige Kasse, die sich in Deutschland in einzelne Länderkassen untergliedert. Der Chef der AOK Bayern bekam laut dem Magazin Stern pro Jahr 30.000 Euro als «Pate» der AOK Rheinland-Pfalz und der AOK Saarland.

Trotzdem muss ich die Möchtegern – Palastbaumeister, -miethaie, -paten und unternehmerischen Kassenmanager enttäuschen. Das Unternehmertum der Krankenkasse ist leider nur eine Fantasie. Auch wenn sie gigantische Summen verwalten und in den repräsentativsten Gebäuden residieren. Auch kleine Kinder mit Spielzeugflugzeugen in der Hand stellen sich gerne vor, ein echtes Flugzeug zu steuern. Tun sie aber nicht. Und das wird sich auch nicht ändern, selbst wenn Mama und Papa ihnen zu Weihnachten ganz besonders große Spielzeugflugzeuge schenken. So bleiben die Krankenkassen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und damit Körperschaften des öffentlichen Rechts. Sehr bedenklich und ernüchternd, wenn die Kassenfürsten daran erinnert werden müssen. RH

Fortsetzung folgt: Eine Kasse verpuppt sich