Ein Beispiel gefällig?
Neu in diesem Unsinns-Regelwerk (das übrigens kurz EBM heißt «Einheitlicher Bewertungsmaßstab») sind Ziffern für chronisch Kranke. Kommt also zum Beispiel ein Patient mit Diabetes zum ersten Mal in die Praxis, muss die Zahl 03220 eingetragen werden. Die KV gibt dafür 13 Euro. Kommt der Diabetiker noch einmal, muss die 03220 wieder gelöscht und stattdessen 03221 eingetragen werden, das ist die Ziffer für seinen zweiten Besuch in der Praxis. Erst ab diesem gibt es zwei Euro mehr im Quartal. Wenn nun aber im Tagestrubel jemand in der Praxis vergisst, die Zahlen zu verändern, oder sich vertippt – ein Zahlendreher ist schnell mal möglich –, kann das bei vielen Patienten den Arzt schnell eine Stange Geld kosten. Was ist die Konsequenz daraus? Die Ärzte sind gezwungen, mehr auf die Zahlen zu sehen, laufend zu kontrollieren. Wenn andere Leute abends schon längst vom Alltag abgeschaltet haben, sitzen Ärzte noch vor dem Computer und überprüfen den Tagesablauf. Aber sie haben keine Wahl. Entweder sie investieren hier ihre eigene Lebenszeit, stellen vielleicht extra dafür jemand ein, oder die Praxis riskiert enorme Verluste.
Was macht das mit den Ärzten? Dieses bürokratische Unsinns-System verändert sie. Die Prioritäten werden verschoben. Sie sind mittlerweile mehr Verwalter von Patienten als deren Ärzte. Diese Bürokratie frisst Zeit auf, die wir als Patienten in den Praxen so oft vermissen. Zeit für uns, die ein Softwareprogramm einteilt und an die ein Bildschirm-Laufband den Arzt erinnert. Aber es kostet eben nicht nur die Zeit, sondern auch Energie. Am Tag sieht ein Arzt oft sechzig Patienten: sechzig einzigartige Fälle, jeder hat seine Probleme. Er muss sich auf jeden einlassen. Anstatt abends oder in den Ferien Kraft zu tanken, zwingt das System die Ärzte, die eingetragenen Ziffern und die Rezepte sowie sich selbst und die Mitarbeiter zu kontrollieren. Es zwingt sie, misstrauisch zu sein, denn jeder Fehler kostet Geld. Das ist wie mit einem Luftballon, der in einem Glas aufgeblasen wird. Je grçßer der Luftballon wird, desto weniger Platz ist noch übrig für die Luft im Glas.
So werden die Menschen von der Bürokratie unseres Gesundheitssystems an den Rand gedrängt. Wie hieß es auf dem Laufband? «Die Behandlungszeit für diesen Patienten ist abgelaufen!» Die Verwaltungszeit, die der Arzt danach für mich aufwenden musste, hat bestimmt doppelt so lange gedauert. Das ist doch verrückt: Letztlich schaden wir uns selbst, wenn wir eine so absurde Situation zulassen, die nicht den Menschen, sondern die Verwaltung zum Maßstab nimmt. Es ist eigentlich zum Lachen, dass mir der Arzt damals nicht erklären konnte, warum ich zu gehen hatte. Dafür habe er schließlich kein Budget, sagte er mir. In den 350 Seiten des EBM gibt es ja keine Abrechnungsziffer für Nachhilfe im Gesundheitssystem.Genauso wenig wie für viele Einsätze des lieben Doktors. Vielleicht sollte man sagen: Die Bürokraten und Technokraten haben den Herrn und die Frau Doktor längst auf ihren Schreibtischen geopfert.
Fortsetzung folgt – bleiben Sie dran – wer die Hintergründe des Systems kennt, kann als informierter Patient auftreten!