Fortsetzung 16 aus meinem Buchkapitel (Vom Patienten zum Schnäppchenjäger) “Der goldene Skalp”

Vom Patienten zum Schnäppchenjäger

Jetzt möchte ich gerne mal Ihnen eine Frage stellen: Für wen bezahlen Sie eigentlich Ihren monatlichen Kassenbeitrag? Ich bin viel als Referentin zu Vorträgen unterwegs, und auch da frage ich mein Publikum: Wer glaubt, dass er seine Kassenbeiträge für sich selbst einzahlt? Meistens strecken dann 90 von 100 Zuhörerinnen und Zuhörern die Hand in die Höhe. Wenn Sie sich meinem Publikum jetzt angeschlossen haben, muss ich Sie leider enttäuschen. Sie zahlen nicht für sich! Das ist der erste Irrtum über das Solidarsystem. Nein, eigentlich ist es der Irrtum in unserer Gesellschaft. Ihr Geld zahlen Sie in einen großen Topf ein. Und aus diesem Topf werden alle bedient, die Hilfe brauchen. Die Gemeinschaft steht ein für die Schwachen. Die Jungen bezahlen für die Alten. Die Gesunden bezahlen für die Kranken. Keiner für sich selbst. Dieses System ist aber ziemlich in Vergessenheit geraten. In dem Film «Sicko» macht sich der amerikanische Dokumentarfilmer Michael Moore auf den Weg nach Europa und versucht dort, die Gesundheitssysteme in England und Frankreich zu verstehen. Ihm gehen fast die Augen über, als die Leute ihm erzählen, dass in der Notaufnahme in einem englischen National – Health – Service-Krankenhaus niemand eine Rechnung bezahlen muss. Die Krankenversicherung kommt dafür auf, egal wie schwerwiegend die Verletzung ist. Der Amerikaner staunt Bauklötze, und die Europäer erklären ihm belustigt die Formel: Jeder nach seinen Bedürfnissen.

Das klingt schon sehr nach Karl Marx. Und irgendwie ist man versucht, dieses verstaubte Wort «Solidarität» samt seinem Marx-Muff in der Rumpelkammer zu entsorgen, in der die ganzen anderen überholten Ideen der Weltgeschichte abgestellt und vergessen worden sind. Tatsächlich ist unser Solidarsystem aber noch nicht ganz abgestellt, sondern am Arbeiten. Es verhindert, dass wir uns verschulden müssen, wenn wir uns mit einer Kreissäge einen Finger absägen oder mit einem Krankenwagen in ein Krankenhaus gebracht werden. Es ist wie ein Fallschirm, den wir bei einem Sprung aus dem Flugzeug auf dem Rücken tragen. Diesen Fallschirm hat uns die Familie der gesetzlich Versicherten geschenkt. Leider sind wir uns dessen nicht mehr bewusst. Unsere Familie ist uns fremd geworden, und wir kennen den Wert des Fallschirms nicht mehr. Darum ist unser Solidarsystem zum Tode verurteilt. Mitte der 1990er-Jahre ist die Krankenversicherungskarte eingeführt worden, und jetzt steckt sie in unserem Geldbeutel wie selbstverständlich neben unserer Bankkarte. Diese beiden Karten haben eines gemeinsam: Wir verlieren das Gefühl für den Wert der Dinge. Wenn ich bargeldlos einkaufe, merke ich erst, dass ich mich übernommen habe, wenn das Konto leer ist und die Karte nicht mehr akzeptiert wird. Es gibt Leute, die interessiert überhaupt nicht mehr, was auf ihrem Konto drauf ist. Sie schieben einfach nur noch die Karte in den Leser und lassen abbuchen. Und so machen wir das mit unserer Krankenkassenkarte auch. Ich stecke sie ein und bekomme das volle Angebot der Medizin quasi gratis. Was dahinter steckt, bekomme ich nicht mehr mit. So verlieren wir das Bewusstsein dafür, dass wir Verantwortung für dieses System tragen. Wir schauen nur noch auf den Profit. Wir ärgern uns nur noch über die Abzüge für die Krankenversicherung, von denen wir auf unseren Gehaltszetteln lesen. Aber wir bekommen nicht mit, wie viel Geld die Solidargemeinschaft für uns beim Arztbesuch investiert oder bereits investiert hat. Eigentlich haben wir nach unserer Geburt und Kindheit bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir das erste Mal einzahlen, schon einen großen Kredit aufgenommen, den wir der Gemeinschaft schulden. Aber dieser Wert ist uns nicht bewusst, weil wir die goldene Karte besitzen und scheinbar alles gratis ist. So werden wir entmündigt und entfremdet von diesem Solidarsystem. Die Ärzte glauben, dass sie zu wenig bekommen. Bei uns ist es umgekehrt: Wir denken, dass uns das alles viel zu viel Geld kostet. Und so stehen wir vor einem großen Irrtum. Das Solidarsystem arbeitet zwar noch und verteilt unser Geld um. Aber es existiert nicht mehr. Nicht mehr in unseren Köpfen, denn dort herrscht schon die Denkweise des Marktes, und die lautet: Jeder ist sich selbst der Nächste. Ich habe das bei einem Pilates-Kurs erlebt. Unter den ganzen Teilnehmerinnen war ich die einzige, die den vollen Betrag von 75 Euro bezahlt hat. Alle anderen hatten einen Zettel von der Krankenkasse dabei und dafür einen ordentlichen Rabatt bekommen. Ich habe die anderen damals gefragt: «Aus welchem Grund soll das Solidarsystem Ihnen den Kurs zahlen?» Die haben mich vielleicht angeschaut! Und es kam sofort die Retourkutsche: «Hören Sie mal! Ich habe jetzt jahrelang eingezahlt und habe noch nie etwas rausgeholt.» Man könnte weiter formulieren: «Das steht mir zu! Das habe ich verdient!» Diese Haltung kommt mir sehr bekannt voraus den Gesprächen mit Ärzten.(..)

Fortsetzung folgt — Kapitel: Der Bonus für die Gesunden