Die Wut der Ärzte
Vielleicht wundern Sie sich, dass es in diesem Kapitel nur um Bürokratie und Gewinn geht. Genauso habe ich mich in den acht Jahren immer wieder wundern müssen, in denen ich über das Gesundheitssystem recherchiert habe. In fast allen Diskussionen mit Ärzten ging es nur ums Geld. Das ist Fakt. Tatsächliche Ausnahmen sind die wenigen Ärzte oder Ärztinnen, die ich als Minderheit bezeichne. Mit denen ich gerungen habe um die Wörter Arzt und Patient, darum, Mensch und Menschlichkeit nicht aus den Augen zu verlieren. Die bereit sind, diesem System die Stirn zu bieten, selbst mit der Gefahr des Existenzverlustes im Nacken. Auch die gibt es, und auch darüber werde ich in der Folge noch berichten! Bei der Masse der Ärzte stehen aber die Patienten hinter der Bürokratie zurück. Es wird gesucht nach unausgeschöpften Geldquellen, nachdunklen Abrechnungsecken, in die niemand so schnell reinschauen kann. Es wird geplündert, was nicht niet- und nagelfest ist. Denn es steht ihnen ja zu. Die Haltung der Masse ist: Wir leisten mehr, als wir verdienen. Wir werden betrogen!
Natürlich ist diese Ansicht bis zu einem gewissen Grad berechtigt. Männer und Frauen müssen sechs Jahre studieren, um Arzt werden zu können. Sie fangen viel später an, für ihre Altersvorsorge Rentenbeiträge zu bezahlen. Keine Frage, dass ihre Ausbildung honoriert werden muss. Ich hatte bei einem Vortrag in Nordrhein-Westfalen eine Begegnung, die mir geholfen hat, diese Unzufriedenheit zu verstehen. Nach einer Veranstaltung saß ich noch mit einer Gruppe Doktoren zusammen. Dabei kam ich ins Gespräch mit einem jungen Mann, etwa Ende dreißig, der mir erzählte, dass er seine Praxis in der dritten Generation führt. Er hat sie von seinem Vater übernommen und der wiederum von seinem Großvater. Dieser junge Mediziner hat mich auf den Trichter gebracht, woher dieses Gefühl bei den Ärzten kommt, dass ihnen etwas vorenthalten wird. Seine Enkelpraxis ist im Vergleich zu der seiner Vorfahren ein optimiertes Klein-Unternehmen. Die ganze Verwaltung erfolgt elektronisch, Papier gibt es nicht mehr. Seine Arzthelferinnen, die mittlerweile medizinische Fachangestellte heißen, hat er von Coaches ausbilden lassen, dass sie am Tresen individuelle Gesundheitsleistungen verkaufen – die schon erwähnten IGeL – Leistungen, die die Patienten aus eigener Tasche bezahlen, ohne dass der Arzt das mit der Kassenärztlichen Vereinigung abrechnen muss. Daran ist absolut nichts Verwerfliches, wenn Patienten zusätzliche Leistungen wollen und da für direkt bezahlen. Dieses Beispiel soll nur zeigen, wie dieser junge Mann seine Praxis führt. An dem Abend sagte er zu mir:«Mein Großvater war schlechter ausgebildet als ich. Und er hat genauso viele Patienten gehabt wie ich. Aber er hat damals das Zehnfache verdient.» Ich habe den Eindruck, dass diese goldene Vergangenheit den ganzen Berufsstand fasziniert. Es sind Geschichten, die sich die Doktoren gerne erzählen – wie Lagerfeuer – Geschichten über die großen Erfolge von damals! Und so jagen sie dem verlorenen Paradies nach und berichten, wie früher alles besser war. Da gab es noch richtige Geschenke der Pharmafirmen! Ein Arzt saß mal in meinem Büro und hat geschwärmt von einem Pharmareferenten, der früher eine ganze Garage voll mit Geschenken der Firma hatte. Sogar eine Komplettausgabe des Brockhaus war dabei, für einen Arztsohn, der damals Abitur gemacht hatte. Dieser Blick zurück verschleiert, dass der Stamm Nimm auch heute noch ganz gut bedient wird. Heute verlangt die Pharmafirma von ihm zwar 75 Euro für eine dreitägige Fortbildung in Berlin, um nach außen zu demonstrieren: Arzt zahlt selbst. Nur dass es sich bei dem Preis um mehr als nur ein Schnäppchen handelt, wird verschwiegen. Denn es sind Verpflegung, Flug, Hotelübernachtung und Freizeitprogramm inklusive. Die goldene Vergangenheit ist der Maßstab. Da war man noch wer! Ein Herr Doktor oder ein Halbgott in Weiß! Da bekam man von der Gesellschaft die Anerkennung und die Privilegien, die einem zustanden! Und natürlich richtig viel Geld. Das alles fehlt heute und macht unzufrieden. Diese nagende Unzufriedenheit muss irgendwann mal raus. Unzufriedene Ärzte kenne ich jede Menge – sie sind wütend auf das heutige Gesundheitssystem. Und diese Wut entlädt sich an denen, die die Ärzte irrtümlich für die Nutznießer halten: an den Kassenpatienten!
Ich habe so viele verächtliche Kommentare von Ärzten über Kassenpatienten gehört, dass ich froh bin, dass die Patienten nicht wissen, was manche Ärzte über sie reden, wenn mal zehn zusammen an einem Tisch sitzen. Sie leben von uns Kassenpatienten, aber das vergessen sie gerne sehr schnell wieder. Sie tun so, als wäre es etwas ganz Tolles für Kassenpatienten, von ihnen behandelt zu werden. Dass es eigentlich eine Ehre für uns sein müsste, dass sie uns ins Behandlungszimmer bitten, wo wir doch schuld an ihren geringen Honoraren sind. Das macht ein schlechtes Gewissen und erzeugt Angst. Diese Woche hat mich eine Frau aus Wismar angerufen. «Frau Hartwig, ich habe hier einen Knoten am Hals, und ich habe Angst!» Ich habe sofort abgeblockt und wollte mich nicht auf das Gespräch einlassen, weil ich medizinische Fragen weder beantworten will noch kann. Ich habe höchsten Respekt vor der Ausbildung der Ärzte, und für solche Fragen fehlt mir die Kompetenz – ich habe nicht Medizin studiert. «Da sind Sie bei mir vollkommen falsch, da müssen Sie zum Doktor! Wieso rufen Sie bei mir an?» Dann sagt sie: «Ich rufe nicht wegen des Knotens an! Mein Doktor hat mir schon im letzten Quartal gesagt, dass ich wegen meiner anderen Diagnosen zu teuer bin.» Und jetzt hatte sie Angst, dass sie mit ihrem Knoten noch teurer wird, und wollte meinen Rat, ob der Arzt sie wegschicken oder ihr Medikamente verweigern kann. «So ein Blödsinn!», habe ich ihr gesagt. «Sie gehen jetzt zum Arzt!» Ich habe mindestens zwanzig Minuten mit der Frau telefoniert, solche Angst hatte sie. Ich sollte mal aufschreiben, was mir Patienten auf den Anrufbeantworter sprechen. Und der ist jeden Morgen neu voll. Ich bin überzeugt, dass diese Frau, bevor sie die Türklinke in die Hand genommen hat und in die Praxis rein gegangen ist, noch mit sich kämpfen musste. Dabei hat sie ganz vergessen, dass sie und die anderen Kassenpatienten diesen Arzt finanzieren. Er hat sich dafür entschieden, Kassenpatienten zu behandeln, und eine Kassenzulassung beantragt. Freiwillig, er wurde nicht dazu gezwungen. Er weiß, dass jeden Tag Patienten in seine Praxis kommen. Andere Selbständige wissen nicht, ob sie jeden Tag einen Auftrag haben werden. Darum finde ich diese Haltung gegenüber Kassenpatienten schlichtweg charakterschwach. Aber viel wichtiger ist die Frage, woher die Angst der Patientin kommt.
Fortsetzung folgt …….mit Kapitel “Nichts mehr wert”