(..) Wenn ehrlich nicht mehr hilft, dann halt unehrlich. Wenn Sie sich jetzt über die Beispiele ärgern, dann muss ich Sie aber daran erinnern, dass diese Ärzte immer noch mit legalen Mitteln arbeiten. Es geht aber auch anders – man kann auch wunderbar tricksen, wobei das noch der vornehme Ausdruck ist. Ich würde es lieber so ausdrücken: Man kann auch wunderbar betrügen, um mehr Geld für seine Patienten zu bekommen. Und das machen nicht wenige. Hört man den Ärzten zu, dann machen es sogar alle. Das sagten mir Ärzte, die solche Abrechnungen einreichen. Immer mit der Entschuldigung: «Das machen doch alle!» Erst vor kurzem war ich bei einem Treffen von Ärzten in Süddeutschland. Ich hatte aber eher das Gefühl, an den Stammtisch eines Wolfsrudels geraten zu sein. Alle trugen Outdoorkleidung von Jack Wolfskin, als würden sie gleich zu einer Bergtour starten. Das Logo der Firma ist eine aufgestickte Wolfstatze. Und da saß ich nun zwischen zwölf Ärzten im Wolfspelz, die über ihren Kalendern brüteten. Es ging um Bereitschaftsdienste im kommenden Quartal, wann wer für die Kollegen Dienst macht. Dabei kamen sie auch auf den neuen Ziffernkatalog für die Abrechnungen zu sprechen, den neuen EBM, der im Oktober 2013 aktualisiert worden war.
Oben habe ich bereits von einer Neuigkeit geschrieben, der Ziffer 03220 für chronisch Kranke. Aber damit nicht genug: Für alte Menschen gibt es ebenfalls zwei neue Ziffern, die mehr Geld bringen. An dem Rudel-Tisch in der Wirtschaft ging es schnell um die Vorteile dieser Geld-Nummern. Ziffer 03360: Die Ärzte können mit Patienten im Alter ab siebzig einen Test machen. Quasi einen TÜV für ältere Menschen, in Arztsprache «geriatrisches Basisassessment» genannt. Stellt der Arzt bei diesem Check zum Beispiel Vergesslichkeit fest, kann er eine beginnende oder sogar schwere Demenz diagnostizieren.Dazu beackert er mit seinem Patienten oder seiner Patientin einen Fragebogen. «Mini-Mental-Status-Test» heißt der. Ein paar Kostproben gefällig?
«Welchen Tag haben wir heute?»
«Wo sind wir?»
«Buchstabieren Sie bitte ‹Radio rückwärts!»
Sehr aufschlussreich ist, dass die Autoren des Fragebogens das rückwärtsgeschriebene «O-I-D-A-R» vorsorglich neben die Aufgabe gedruckt haben. Die «nicht dementen» Ärzte haben offenbar selbst Probleme, Radio rückwärts zu buchstabieren…
Aber wir müssen weitermachen, unendlich Zeit haben wir für diesen Test natürlich nicht! Ich nenne Ihnen jetzt drei Gegenstände: Auto, Blume, Kerze. Können Sie wiederholen, welche Gegenstände ich gerade genannt habe? Und auch beim ärztlichen Fragebogen dreht es sich gleich wieder ums Thema Geld. In einer Aufgabe soll der Arzt den Patienten bitten, ihm folgenden Satz nachzusprechen: «Sie leiht ihm kein Geld mehr!» Wenn Sie das nicht mehr auf die Reihe bekommen, sind Sie gerade sehr aktiv dabei, dem Herrn Doktor zu Geld zu verhelfen! Bei jeder falschen Antwort gibt es nämlich Punktabzug. Und Sie werden nicht erraten, wie unglaublich «aufwändig» danach diagnostiziert wird. Die erreichten Punkte zählt man zusammen, und es gibt wie beim Persönlichkeitstest in der Illustrierten eine Tabelle: Wer nur 25 bis 18 Punkte schafft, kann vom Arzt schon den «Hinweis auf eine leichte Demenz» attestiert bekommen. 17 bis 10 mittelschwere Demenz. Unter 10 ist es dann eine schwere Demenz.
Aber ich muss erst einmal festhalten: Eigentlich ist es keine schlechte Idee, dass Ärztinnen und Ärzte mehr Geld für demente Patienten bekommen. Vorausgesetzt, sie haben dann mehr Zeit für ihre Behandlung! Und so war es wohl auch gedacht. Kommt bei diesem «Mini-Mental-Status-Test» eine Demenz-Diagnose heraus, kann der Arzt eine neue Ziffer abrechnen, nämlich die 03362. Die bringt mehr Geld, und hoffentlich nimmt er sich dann mehr Zeit. Aber der Unterschied zwischen Theorie und Praxis ist gewaltig, und ich würde nur zu gerne wissen, welcher Mini-Mental-Kleingeist sich dieses naive System ausgedacht hat, das eigentlich aus einem richtigen Gedanken entstanden ist. Eine Ärztin hatte mir dazu einen warnenden Brief geschrieben: «Die alten Patienten werden zu ‹Deppen› gemacht – auch wenn sie noch so rüstig sind», stellte sie fest. «Denn die Preisfrage ist: Wer soll bitte kontrollieren, ob dieser Test korrekt gemacht worden ist und die Diagnose stimmt?» Zurück zu den Wölfen in die Kneipe. Mich interessierte brennend, wie sie wohl mit diesem Test umgehen. Als ich das Thema ansprach, heulte das Rudel begeistert den Euro-Mond an: Keiner könnte das kontrollieren, und es sei leicht, eine beginnende Demenz zu diagnostizieren. Sie müssen nur siebzig Jahre alt sein und bei solchen Tricksern im Behandlungszimmer sitzen. Von den Euros, die dann für Ihren erhöhten Betreuungsaufwand überwiesen würden, bekämen Sie als Patient nichts mit. Für den Großteil des Rudels eine saftige Beute. Zweien von den Ärzten wurde es dann doch zu ungemütlich. «Was ist, wenn das auffliegt?», fragte ein älterer Kollege. Ihm war unwohl bei dem Gedanken, dass er einen Patienten auf dem Papier dement machen kann, nur weil der bei einer Untersuchungsfrage zu lange überlegen muss. Einer der anwesenden Doktoren bügelte die Einwände aber flach: «Wer soll das denn kontrollieren?» Ich musste erst mal schlucken, denn am gleichen Tag hörte ich im Radio die Nachricht, dass es in Deutschland immer mehr Demenzkranke gibt. Sehr witzig, habe ich bei mir gedacht. Über diese steigenden Zahlen brauchen wir uns gar nicht zu wundern, wenn die Regeln die Ärzte förmlich dazu einladen, die Patienten dement zu machen. Aber tatsächlich ist das überhaupt nicht zum Lachen. Nennen wir es doch beim Namen! Das ist Betrug. Und zu diesem Betrug werden die Ärzte regelrecht verführt. Und keinen stört es, weil es ja angeblich alle machen. Und was heißt das für uns Patienten? Müssen wir uns in Zukunft ab siebzig auf den Arztbesuch vorbereiten und noch mal im Kopf durchgehen, wie man «Radio» rückwärts buchstabiert? (…)
Fortsetzung folgt ….. wie Sie hier nachlesen können, es ist wichtig ein informierter Patient zu sein!