Die Behandlungszeit ist abgelaufen

Kronach – Die Bestsellerautorin Renate Hartwig wurde in Deutschland für ihren Kampf gegen die Scientology-Sekte bekannt.

Nun wendet sich die Neu-Ulmerin, die den Landkreis Kronach aus ihrer früheren Tätigkeit in der Sozialarbeit kennen- und schätzen gelernt hat, gegen die drohende Amerikanisierung des deutschen Gesundheitswesens. Der neueste Feldzug der Bayerin führt jetzt – wie es der Zufall will – nicht nur quer durch Deutschland, sondern auch in den Frankenwald zurück. Von Weißenbrunn bis Teuschnitz stößt man derzeit auf Info-Blätter der von Hartwig ins Leben gerufenen Initiative „Patient informiert sich“.

Denn was der Bürger hier zu Lande noch nicht ahnt, ist laut Hartwig, dass der geschätzte und vertrauenswürdige Hausarzt abgeschafft werden und von angestellten Ärzten an so genannten medizinischen Versorgungszentren und Polikliniken ersetzt werden soll. „Und damit hätte der Staat den gläsernen, kontrollierbaren Patienten“, pflichtet die Vorsitzende des oberfränkischen Hausärzteverbandes, Dr. Petra Reis-Berkowicz, der Autorin Hartwig bei.

Amerikanische Verhältnisse

Sie, ebenso wie die Hausärztinnen Monika Seiß (Weißenbrunn) und Rita Gläser (Teuschnitz) und viele andere Kollegen im Landkreis Kronach und darüber hinaus, sehen Verhältnisse wie in den USA auf ihre Patienten zu kommen.

Szenenwechsel: Eine Frau um die 30 wird in einen Autounfall verwickelt, per Krankenwagen in die Klinik gebracht und verarztet. Als sie wieder nach Hause kommt, hat sie Post von ihrer Krankenversicherung. Das Unternehmen teilt ihr mit, dass sie auf den Kosten für den Krankenwagen sitzen bleiben wird. Die Versicherung hat nämlich einen Passus im „Kleingedruckten“, der besagt, dass vor in Anspruchnahme einer Leistung diese mit dem Unternehmen abgeklärt werden muss.

Wahre Begebenheit

„Wann hätte ich das tun sollen? Als ich bewusstlos war? Oder als ich bereits im Krankenwagen lag und wieder zu Bewusstsein kam?“, fragt die Frau ironisch. Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit und wird in Michael Moores neuestem Film „Sicko“, der mit dem amerikanischen Gesundheitssystem abrechnet, geschildert. Auf Deutschland nicht übertragbar? „Doch, in den nächsten Jahren wird es auch bei uns ähnliche Fälle geben, wenn unsere Gesundheitspolitik so weiter betrieben wird“, warnt die Vorsitzende des bayerischen Hausärzteverbandes im Bezirk Oberfranken, Dr. Reis-Berkovicz, die sich mehr solch interessierte und engagierte Patientinnen wie Renate Hartwig wünschen würde.

Wo befindet sich Deutschland derzeit und warum macht sich eine Autorin plötzlich für einen bis vor einigen Jahren sehr gut bezahlten Berufsstand stark? „Meine Initiative geht auf ein Schlüsselerlebnis zurück“, erzählt die Neu-Ulmerin

Renate Hartwig. „Ich sitze beim Hausarzt. Der muss raus wegen eines Telefonats, und dann macht’s auf dem Bildschirm auf einmal „klick“ und es läuft ein Band: Die Behandlungszeit für diesen Patienten ist abgelaufen. In dem Moment kommt der Arzt zurück und sagt zu mir: Tja, das sind die Auswirkungen der Gesundheitsreform.“

Die Neugier der Autorin war geweckt. „Welche Ziele hat diese Gesundheitsreform und was heißt das für uns als Patienten?“, hakte Hartwig nach. Ihre Antwort nach Monate langer Recherche ist erschreckend: „Die Gesundheitsreform bedeutet auf keinen Fall das, was die Politik uns verkauft – dass wir besser da stehen als Patienten, sondern die Reform läuft in Richtung Staatsmedizin.“

„Wir sind eine Nummer“

Voraussetzung dafür sei es, eine Säule des bisherigen Gesundheitswesens, den Hausarzt, zu zerschlagen. Das Ziel heiße Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ). „Das MVZ kontrolliert, es ist die totale Kontrolle. Die Ärzte sind angestellt, die sind nicht mehr frei. Wir sind eine Nummer, und dann kommt da kein Band mehr: Die Zeit ist abgelaufen, sondern da komme ich dann hin, wenn ich bestellt werde.“

Und dann sei der Patient kein Mensch mehr, sondern ein Produkt, das vermarktet werde. „Wir sind inzwischen ein Gesundheitsmarkt, und da geht’s jährlich um 240 Milliarden“, macht die Neu-Ulmerin deutlich, bei der Wut und Angst ausbrechen, wenn sie sieht, wer auf diesem Markt plötzlich mit abschöpfen will. Renate Hartwig nennt jedoch noch keine Namen. Renate Hartwigs Forderung: „Ich zahle in eine Krankenkasse, damit ich, wenn ich krank werde, versorgt werde.“ Zu einer guten Versorgung gehöre aber auch, dass der Arzt dafür richtig bezahlt wird, „denn wenn mir jemand gegenüber sitzt, der von einem System gezwungen wird, nur Punktzahlen im Kopf zu haben, um seine Existenz zu sichern, der – wenn er nicht aufpasst – sogar über ein Regressverfahren bestraft wird, wenn er mir Medikamente verschreibt, dann halte ich das für so unverschämt, dass ich dafür gar keine Worte mehr finde. Ich will einen freien und keinen entmündigten, versklavten, abhängigen Arzt “

Auf die Frage, welche Befürchtung sie am meisten plagt, sagt Hartwig: „Dass diese Zielsetzung funktioniert und so genannte Investoren den Milliarden schweren Gesundheitsmarkt an sich ziehen.“ Die Folge ist für sie ganz klar: „Der Gesunde wird umworben, und der Alte, Kranke muss sich Sorgen machen, was mit ihm passiert.”

Frühableben erwünscht?

Die vor Jahren ausgesprochene Warnung des damaligen Ärztekammerpräsidenten Volmer vor dem sozialverträglichen Frühableben, hat Hartwig zur Kämpferin für den Erhalt des freien Arztberufes gemacht. Sie sieht im Hausarzt auch den einzigen Hüter der Patientendaten, die mit der neuen Gesundheitskarte in Gefahr sind.

Doch noch ist es nicht zu spät. Und gerade die Menschen in Oberfranken haben es an der ehemaligen „Zonengrenze“ 1989 hautnah erlebt, dass Solidarität eine nicht zu unterschätzende Macht ist. „Wir sind das Volk“ – darauf zählt Autorin Renate Hartwig nun, und mit ihr die in ihrer Existenz bedrohten Hausärzte. Mehr Infos zu ihrer Initiative gibt es in den Hausarztpraxen oder unter www.patient-informiert-sich.de

Artikel online:http://www.np-coburg.de/

Erschienen am 16.11.2007. Ein Beitrag von Eva Fiedler in der Coburger Neue Presse