Juli 2017

Fortsetzung 21: “Wer bekommt zu Recht unser Geld?”

Die Hauptfrage ist: Was geht mich die Krankheit eines anderen Menschen an? Nach dem tragischen Skiunfall des deutschen Rennfahrers Michael Schumacher kam eine Frage auf: Sollten sich nicht Leute mit solchen gefährlichen Hobbys extra versichern, damit die Kasse das nicht zahlen muss? Plötzlich diskutieren wir darüber, was das Solidarsystem nicht bezahlen sollte. Diesen Streit gibt es nicht nur über Michael Schumacher, der sicherlich nicht Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung ist. Was ist aber mit den Rauchern? Sie schaden ihrer eigenen Gesundheit jahrelang und sind sich der Konsequenzen bewusst mittlerweile schreit es ihnen jede Zigarettenschachtel in großen Buchstaben entgegen! Muss dann die Gemeinschaft dafür aufkommen, dass sie im Alter Krebs oder in einer teuren Operation ihre Beine amputiert bekommen.

Was ist mit den Dicken? Wenn die sich nicht zusammenreißen und nicht genug bewegen, was kann die Gemeinschaft dafür? Das habe ich übrigens schon oft von Ärzten gehört: «Wer so fett ist, soll selbst zahlen! Wenn die wegen ihrer Fettsucht kommen, sollen sie individuelle Gesundheitsleistungen kaufen!» Nicht nur in einem Fall kamen die Ideen von massiven Bierbauchträgern. Machen wir weiter: Was ist mit Menschen mit Aids? Bluthochdruck? Malaria? Hätten die nicht besser auf sich aufpassen können?

Schließlich sind die verantwortungsbewussten Mitglieder des Gesundheitssystems ja die, die in ihrem Bonusheft Stempel vom Fitnessstudio und Sportverein und einen vorbildlichen Body-Mass-Index haben. Die geben sich Mühe, nichts zu kosten, und die Kassen belohnen das. Aber bekommen dann diejenigen zu Recht Geld, die unverantwortlich waren? Wer hat es verdient, so viel Geld aus diesem Topf zu bekommen, wie nçtig ist? Die Diskussion wird geführt, und sie ist eine gefährliche Diskussion! Wer ist denn ein Richter, über diese Frage zu entscheiden? Niemand, aber es richten alle, wenn es um fremde Krankheiten geht, und so stigmatisieren wir Menschen!

Wir sagen: «Du bist zu dick», meinen aber: «Du bist zu teuer!» Wer führt hier die Manipulationsrhetorik? Und nach welchem Maßstab richten wir uns da aus? Der Markt im Gesundheitssystem hat unser Denken schon so herumgerissen wie ein Magnet die Kompassnadel. Die Prioritäten verschieben sich: Es geht nicht mehr um Mitgefühl und Menschenwürde, sondern um den Preis. Und bei der Preisfrage sind alle anderen Werte fließend. Eine weitere Geschichte, die mich sehr geprägt hat und die ich deshalb auch immer erzähle, ist die einer Familie mit drei behinderten Jungen. Diese Geschichte ist für mich symptomatisch für das System.

Da gibt es jemanden, der eine Krankheit hat. Er ist krankenversichert und hat sich darauf verlassen, dass seine Krankenkasse bezahlt. Aber in diesem Fall hat sie die Familie im Stich gelassen. Ich habe die Geschichte auch im Oktober 2013 bei einem Vortrag in Rheinland-Pfalz vor 1200 Leuten thematisiert und eine Reaktion bekommen, die mir Sorgen bereitet. Ich erzählte davon, dass die Krankenkassen im Jahr 2009 Ausschreibungen bei Lieferanten von Inkontinenz-Artikeln gestartet hatten, um über günstige Preise «Geld einzusparen»! Der Billigste war am Zug, um den Zuschlag zu bekommen. Auch die Kasse der Familie hat diese Art der «Sparmaßnahme» mitgemacht. Zu diesem Zeitpunkt durfte niemand mehr im Sanitätshaus oder in der Apotheke ein Rezept für Windeln einlösen. Die Familie war aufgeschmissen!

Die drei Buben waren schon Jugendliche und junge Erwachsene, aber wegen ihrer Behinderung brauchten sie alle Windeln, und plötzlich gab es im Sanitätshaus keine mehr für sie. Der neue Lieferant konnte aber erst nach drei Wochen liefern. Und weil sein Angebots-Preis so tief war, musste er das Produkt natürlich günstig machen und schnell nachliefern. Sie hat also eine Palette voll mit Windeln für vier Wochen vor der Tür abgestellt. Die Firma hat nach Statistik berechnet, wie viele Windeln drei junge Männer in dieser Zeit verbrauchen dürfen, und hat diese Einlagen auf eine Palette gepackt und angeliefert.

Aber wo soll eine Familie so viele Windeln unterbringen? Wir hatten damals schon mit ihnen Kontakt, und so haben sie meinen Mann und mich angerufen, weil sie mit dem Windelberg nicht weiterwussten. Mein Mann hat aus dem Baumarkt Mülltüten geholt, und wir haben auf der Straße die Windeln von der Palette genommen und in die Säcke gepackt und so mit vereinten Kräften die Palette geleert. Dann die Windeln im Zehnerpack verstaut, wo wir in der Wohnung Platz gefunden haben: unterm Bett, hinterm Schrank, den Rest in den Müllsäcken im Fahrradkeller. Es war August und ziemlich warm, und mein Mann meinte nur in seiner sarkastischen Art: «Schade, dass nicht Winter ist, das wäre eine wunderbare Wärmedämmung!» Keine Woche später hat mich die Frau wieder angerufen und uns gebeten, schnell zukommen. Ihre Wohnung sei jetzt unbewohnbar, sagte sie am Telefon. Denn die Windeln seien keine Windeln, sondern wären wie Plastiktüten, auf die zehn Lagen Papiertaschentücher geklebt wurden. Und jetzt machen sie Riesenprobleme.

Also sind wir wieder ins Allgäu gefahren und haben nach dieser kurzen Zeit die Wohnung nicht mehr wieder erkannt. Alle Sessel und Stühle waren eingehüllt in dünne Malerfolie, und in der Wohnung hat es penetrant gestunken. Dann hat die Mutter mir eine Windel gezeigt, und was ich sah, war ein völliger Wahnsinn! So ein Kerl mit neunzig Kilo, der ganz normal isst, hat einen Stuhlgang, der garantiert nicht von dieser Windel gehalten wird. Vom Urin ganz zu schweigen. Also hat sie mindestens zwei, drei Windeln übereinander angezogen, um das Nötigste zu halten. Aber wenn die Jungs sich hingesetzt haben, dann ist der Inhalt wegen des schlechten Gummis rechts und links rausgelaufen.

Das sind Situationen, die mich geprägt haben. Am liebsten hätte ich so eine volle Windel genommen, um in die Firma zu fahren und sie denen so lange unter die Nase zu halten, bis sie merken, was für ein sprichwörtlicher Mist ihr Produkt ist. Nur, wo sollte ich hinfahren? In die Krankenkasse oder in die Firma, die damit ihren Gewinn macht? Oder zu dem Schreibtischtäter, der irgendwo sitzt und ausrechnet, wie viel Stuhlgang solche jungen Kerle haben, ohne sie jemals gesehen zu haben.

Dann habe ich eine Entscheidung getroffen, und wir haben die Bürgertreffs in der ganzen Region in Aktion gebracht. Viele Menschen sind in die Apotheken und Sanitätshäuser gegangen und haben die Leute gebeten, ihre Kunden mit Inkontinenz anzusprechen, dass die sich bei uns melden sollen. Nach zehn Tagen waren es schon so viele, dass wir eine Woche lang die vollen Windeln abgeholt und jeden Morgen bei der jeweiligen Krankenkasse an die Tür hängen konnten. Die regionalen Büros meldeten das an die zentralen Stellen. Und dann tat sich endlich etwas. Eine Firma musste nachrüsten, und mittlerweile kann man Rezepte von manchen Kassen auch wieder bei Sanitätshäusern oder in den Apotheken gegen Windeln einlösen.

Wer war hier der Schnäppchenjäger? Es war die Krankenkasse, weil sie den billigsten Anbieter wollte. Angetrieben durch das Wettbewerbsstärkungsgesetz der letzten Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Da sind wir im Markt und nicht mehr im Solidarsystem. Denn dort hätte die Kasse die Pflicht und Schuldigkeit, nach den Bedürfnissen der Patienten und nicht nach dem billigsten Anbieter zu schauen. Es geht um die Würde der Menschen, und es ist für mich kein menschenwürdiges Leben, wenn die Möbel voller Stuhlgang kleben oder Kranke sich nachts in der nassen Windel wund liegen müssen!

So weit sind wir schon bereit, die Schwachen den Schnäppchenjägern auszuliefern. Wenige Tage, nachdem ich die Geschichte bei dem Vortrag erzählt hatte, bekam ich eine lange E-Mail von einer Zuhörerin. Der Inhalt hat mich wirklich geplättet! Sie kam schnell auf den Punkt: «Zum Beispiel diese Familie vom Allgäu mit DREI!! behinderten Kindern und den Windeln – das war sehr unappetitlich und klang für mich nach Bildzeitungs-Niveau», schrieb sie mir. Und weiter: «Warum, frage ich mich, muss eine Frau drei behinderte Kinder zur Welt bringen!?» Die Frau regte sich also nicht darüber auf, dass die Kasse eine Familie im Stich gelassen hat, sondern dass die Familie bedürftig war. In ihren Augen unnötigerweise bedürftig. Nach dieser Logik müssten wir die Kassen mittlerweile dafür loben, dass sie ihre Aufgabe nicht erfüllen, weil sie dadurch ja unser Geld sparen! Vielleicht könnte ja unser Beitrag in Zukunft sinken, wenn wir die unnötig Kranken nicht mehr mitfinanzieren müssten. Und dazu gehören anscheinend auch Behinderte, denn die hätten unnötigerweise nicht geboren werden müssen, womit sie nur unser Solidarsystem belasten.

Die Frau schrieb mir weiter:

«Nach dem ersten behinderten Kind hätte diese gute Frau verhüten müssen mit gesundem Menschverstand, oder? Sollen wir diesen Wahnsinn mit unseren Beiträgen bezahlen, dass die Asozialen Kinder in die Welt setzen – weil es gerade so lustig ist, und der Staat (auch ich) soll dafür mit unseren Beiträgen zahlen?»

Ja, wir zahlen. Wir zahlen für die Kranken. Für die Leichtsinnigen und die Behinderten. Wir zahlen dafür, weil wir selbst durch Leichtsinn krank oder sogar behindert werden können. Das ist das Solidarsystem. Gerade ist aber jeder dabei, dieses System zu plündern. Die Patienten sind eigentlich die, die das verhindern sollten. Weil sie davon profitieren. Aber wir sind Schnäppchenjäger und keine Patienten, und als solche sind wir gerade dabei, uns in die Schlange derer zu stellen, die dieses System ausrauben und abmurksen wollen.

Fortsetzung folgt: „Frau Doktor! Die Kassen sind krank!“

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Warum ein besserer Rollstuhl? Gelähmt ist gelähmt! Fortsetzung 20 aus meinem Buch “Der goldene Skalp”

Ich lernte einmal eine junge Frau kennen. Damals war sie Anfang zwanzig. Seit einem Unfall in der Schule saß sie im Rollstuhl. Das Modell, das ihr die Kasse gezahlt hatte, war für sie eine Katastrophe. Sie wohnte in einer Wohnung im zweiten Stock, und solange sie drinnen blieb, gab es keine Probleme. Aber wenn sie vor die Tür wollte, musste sie immer jemanden bitten, ihr in den Aufzug zu helfen und sie auf die Straße zu schieben. Mit dem Bus fahren war für sie unmöglich. Für all das hatte sie einfach nicht genug Kraft in den Armen. Ich unterstütze ihren Wunsch, dass sie selbständig leben kann. Dass sie wieder ein besseres Lebensgefühl findet und unter andere junge Leute kommt. Seit dem Unfall haben sich aber die Kassen gestritten, wer für sie bezahlen soll. Jahr für Jahr ging es zwischen der Unfall- und der Krankenkasse hin und her, während sie isoliert in der Wohnung saß. Darum habe ich mich für die junge Frau engagiert und ihre Geschichte auf einer Veranstaltung meiner Initiative «Bürgerschulterschluss» erzählt. Der Effekt war, dass wir auf einmal eine Diskussion hatten und ein pensionierter Beamter mich fragte, ob die mit 23 wirklich so einen teuren elektrischen Rollstuhl brauche. Ich habe gefragt: «Wieso denken Sie, weshalb sie ihn nicht braucht? Nicht bekommen sollte?» «Es gibt ja auch billigere Rollstühle!», war seine Antwort. Da habe ich gekontert, weil mir fast der Kragen geplatzt ist:

«Was macht ihr denn mit euren Bonusheften? Braucht ihr diese Kassenzugaben?» «Frau Hartwig, ich brauch kein Bonusheft, ich bin privat versichert», sagte der Beamte.

Mein Adrenalinpegel stieg weiter: «Was gibt das jetzt? Eine neue Auflage der Geschichte ‹Wir sind die besseren Patienten›? Haben wir nicht schon genug an gravierenden Unterschieden?

Mag ja sein, dass zu Ihnen der Herr Doktor freundlicher ist, mehr Zeit für Sie verwendet, Ihnen besser zuhört und nicht laufend auf seinen PC sieht, um das Budget nicht aus dem Auge zu verlieren. Bilden Sie sich ja nicht ein, es gehe dabei um Sie! Es geht dabei um die Bezahlungsmodalität Ihrer Behandlung, da Sie als Beamter als Privatpatient in der Praxis aufschlagen! Und was denken Sie, wer Ihre Beihilfe bezahlt? Wir, die Masse der Steuerzahler! Also, sollen wir nun auf dieser Basis weiter diskutieren? Wer der‹bessere›Patient ist? Wem was eher zusteht? Denn Sie als Beamter kommen als Privatversicherter mit Beihilfe gar nicht in so eine Situation wie diese junge Frau!

Ja, ich war in dem Moment echt sauer! Vielleicht weil es zu oft vorkommt, dass wir so über einen anderen Menschen diskutieren, zum Beispiel wie eben in dem Fall, ob die junge Frau einen gescheiten Rollstuhl bekommen darf oder nicht. Und während sie in der Runde über andere diskutierten, haben sie weder als Privat- noch als Kassenpatient daran gedacht, wie ihre in Anspruch genommenen Vorteile finanziert werden. Vorteile und Geschenke, Rabatte und Boni, Pizzaessen und Gartenscheren – das alles geht. Aber ein elektrischer Rollstuhl ist plötzlich unnötiger Luxus, und da muss man genau hinschauen. Mit beiden Händen in den Topf reinlangen wie der Arzt in den Karton mit Kugelschreibern.

Unser Egoismus zeigt sein Gesicht, indem wir solche Diskussionen führen wie oben: Braucht die junge Frau diesen Rollstuhl? Was bitte treibt uns in der Überlegung? Der Mensch? Seine Lebenssituation? Oder nicht eher die Angst, zu kurz zu kommen? Diesen Gedanken müssen wir weiterdenken, denn dieses Denken vergiftet unsere Gesellschaft an einer empfindlichen Stelle. Wenn wir schon Menschen nichts gönnen, die für ihre Krankheit nichts können, was machen wir dann mit denen, die in unseren Augen selbst schuld an ihrem Leid sind?” (..)

Fortsetzung folgt: „Wer kriegt zu Recht unser Geld?“

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