Warum behandeln, wenn der eh stirbt?
CICERO MAGAZIN FÜR POLITISCHE KULTUR
Interview mit Renate Hartwig
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Ärzte und Patienten werden von der Gesundheitspolitik belogen, verraten und in kleinen Scheibchen an die freie Wirtschaft verfüttert: Renate Hartwig steigt mit ihrem Bestseller „Der verkaufte Patient“ gegen die Gesundheitsreform auf die Barrikaden. Ein Interview mit der engagierten Publizistin in heiligem Zorn.
Frau Hartwig, mit einer guten Nase für gesellschaftspolitische Minenfelder haben sie sich im Laufe ihrer Karriere bei einigen Menschen ziemlich unbeliebt gemacht. Früher waren sie einmal als Deutschlands einflussreichste Scientology Kritikerin bekannt, jetzt klingen sie wieder ziemlich wütend, was ist los?
Ich bin schon wieder in ein Schlangennest getreten! In Deutschland zieht gerade eine Gesundheitsmafia – anders kann man sie nicht bezeichnen – Sachen ab, die anderswo nie hätten passieren können. In Frankreich oder Italien wären bei so etwas innerhalb von kürzester Zeit die Straßen voll mit protestierenden Bürgern gewesen, die gesagt hätten: Sagt mal tickt ihr noch richtig in der Politik, was macht ihr denn da?! Aber den Deutschen fehlt meist die Zivilcourage, die lassen gerne andere für sich entscheiden, und meckern dann erst wenn es zu spät ist. Das muss ein Gendefekt sein, irgendetwas stimmt da nicht.
Also, wofür müssten wir auf die Straße? Gegen die Gesundheitsreform?
Genau da gegen! Denn was bei uns in Deutschland unter dem Etikett der „Gesundheitsreform“ läuft, ist nichts anderes als der Ausverkauf, die völlige Auflösung unserer solidarischen Gesundheitsversorgung. Seit Jahren machen Politiker aller Fraktionen Gesetze, mit denen sie bestimmten Konzernen zuarbeiten, Kapitalgesellschaften denen es nur noch um Gewinnmaximierung geht, und nicht um den kranken Menschen. Die Ärzte werden gleichzeitig an einem langen Band von staatlichen Stellen gegängelt, und mit Zwangsmitgliedschaften bei Kassenärztlichen Vereinigungen versklavt. Das mache ich nicht länger mit! Ich habe eine Bürgerinitiative gestartet und werde einen Volksentscheid durchsetzen, gegen diesen politischen Wahnsinn, den die da entschieden haben.
Den Kassenärztlichen Vereinigungen wird doch gerade aus der Politik oft vorgeworfen, sie seien Kartelle, die den Wettbewerb blockieren. Das klingt doch eigentlich nach Protektionismus zugunsten der Ärzte?
Keinesfalls. Wie die vorgehen, das erinnert eher an die Cosa Nostra. Alle niedergelassenen Ärzte, die Kassenpatienten behandeln, müssen sich einer Kassenärztlichen Vereinigungen anschließen, die dann für sie die Honorare mit den Kassen aushandelt. Aber die KV agiert eben nicht im Interesse ihrer Mitglieder, sondern muss als Körperschaft des Öffentlichen Rechts die Gesundheitsrichtlinien der Regierung durchsetzen. Und die, wie gesagt, ist gerade dabei unsere Gesundheitsversorgung zu verscherbeln. Ein Ergebnis ist, dass Ärzte aus eigener Tasche das zurückzahlen müssen, was sie zuviel für Patienten ausgegeben haben. Krebspatienten zum Beispiel, die zeitintensive Behandlungen und regelmäßige Medikamente brauchen, sind damit geradezu ein Existenzrisiko für die behandelnden Ärzte. Oder nehmen sie einen anderen Fall, der in meinem Buch steht und kürzlich in den Tagesthemen war: Ein Arzt der jetzt über 100.000 Euro Regress hat, weil er allen behinderten Kindern im Umkreis das verschrieben hat, was sie brauchen. Und wenn wir behinderten Menschen das vorenthalten, was ihre Lebensqualität steigern könnte, dann haben wir als Gesellschaft versagt!
Sind also die Kassenärztlichen Vereinigungen selbst im Schwitzkasten der Politik?
Je mehr ich recherchiere, desto deutlicher zeigt sich, dass es den KV’s vor allem um Geld und Macht geht. Sie streichen Unsummen von den Ärzten ein, 2,5 % von deren Bruttoumsatz, schädigen Ärzte über Regresse und lassen sich nicht in die Karten schauen. Das alles, weil es ihnen der Gesetzgeber ermöglicht. Und dann gründen sie ohne Skrupel GmBH’s und CoKg’s auf Aktienbasis oder Stiftungen um ihre persönlichen Existenzen und Einnahmen für die Zukunft zu sichern. Um den Patienten geht es dort kaum noch jemandem. Was Ärzte wegen ihrer notwendigen Behandlung am Patienten zu hören bekommen, sagt viel über die Einstellung einzelner KV- und Kassen Fürsten: „Mit 92 braucht man keine solche Behandlung mehr,“ oder: „Wieso wollen sie da noch groß was machen, bei dem Krebskranken, wenn der eh stirbt?“ Das heißt im Klartext: Gib ihm weniger, dann haben wir den schneller von der Backe! Ich weiß, dass es solche Aussagen gibt, ich habe mit dutzenden von Ärzten darüber diskutiert, die ähnliches gehört haben. Auf der ganzen Welt gibt es keine Kassenärztliche Vereinigung, nur in Deutschland. Eine für den Bund, dann noch 16 einzelne für die Länder, und jede hat Vorstände, die im Schnitt zwischen 220 und 300 Tausend Euro im Jahr verdienen. Noch Fragen?
Neben dem Kartell der KV’s kritisieren sie vor allem die Öffnung der Gesundheitsversorgung für die Wirtschaft. Besteht nicht die Hoffnung, dass der Markt langfristig die Gesundheitsversorgung besser und effizienter gestaltet, als es die schwerfällige Verwaltung des Staates getan hat?
Also, ich bin keine Linke und komme jetzt mit irgendwelchen sozialistischen Parolen! Aber wir dürfen als Menschen und Patienten nicht rationiert werden. Wir zahlen als Kassenpatienten immer mehr, und bekommen immer weniger. Und umso älter und kränker wir werden, umso schlimmer geht’s uns. Von Effizienz kann keine Rede sein. Unter dem Einfluss der Wirtschaft wurden beispielsweise gerade 19 Milliarden in die elektronische Gesundheitskarte gesteckt. Und wer profitiert davon? Zuerst einmal die Lobbyisten. Die haben die Politik davon überzeugt das Geld auszugeben, mit dem Argument wir bräuchten dann keine Doppeluntersuchungen mehr. Da kriege ich ja einen Lachanfall! Stellen sie sich mal vor wie lange das braucht, bis 19 Milliarden sich amortisieren! Wer wirklich davon profitiert, sind die beteiligten Firmen, wie Siemens und einige IT-Firmen, insgesamt etwa fünf Unternehmen! Das ist, als würden sie morgen die Elbe umleiten, damit fünf Schiffe Gewinn machen.
Sie sagten einmal, bei uns findet eine Amerikanisierung im Gesundheitswesen statt. Was heißt das konkret?
In den USA wird man praktisch nur noch versichert, wenn man jung und gesund ist. Bestimmte Krankheiten werden gar nicht mehr versichert. Deshalb gibt es fünfzig Millionen unversicherte Amerikaner. Deren komisches System der „Integrierten Versorgung“ führt dazu, dass der Kranke betteln, weinen und auf Knien rutschen muss, damit ihn überhaupt noch eine Versicherung nimmt. „Integrierte Versorgung“ heißt: Praktisch das gesamte System ist in der Hand eines Aktiennotierten Unternehmens. Wer dort versichert ist, dem wird der Arzt vorgeschrieben – ein Angestellter des Selben Unternehmens, der meist am Gewinn beteiligt ist. Der Gewinn wiederum erhöht sich, je weniger für den Patienten geleistet wird. Auch das vorgeschriebene Krankenhaus gehört dem Unternehmen: Pech für den, der einen Notfall weit weg von einem solchen Krankenhaus hat: Möglich, dass sie schon tot sind, wenn sie dort ankommen. Das alles ist übrigens kein Horrorszenario, sondern in den USA längst Realität. Kein Wunder, denn was wollen Kapitalgesellschaften? Gewinn machen! So wird der Mensch zum Teil der Wertschöpfungskette, und damit zur Ausbeutung freigegeben
Und wenn ich sehe, wie unsere Gesundheitspolitiker regelmäßig in die USA reisen, um sich das dortige System anzuschauen, dann werde ich schon stutzig. Insbesondere nachdem sie mehrmals das dortige Krankenversicherungsunternehmen Kaiser Permanente besucht haben, und deren Vertreter auch schon in Deutschland bei Politikern vorstellig wurden.
Sie sprechen von dem Konzern, an dem Michael Moore in seinem Dokumentarfilm „Sicko“ kein gutes Haar lässt.
Genau von dem. Und alle pilgern sie zu Kaiser Permanente in die Staaten: Zuerst Ulla Schmidt 2007, und im Mai 2008 Gesundheitspolitiker aller Fraktionen! Kaiser Permanente gehört heute zu den weltweit größten Versicherungsanbietern der integrierten Versorgung, exakt die Art Konzern, von dem ich eben sprach. Der Laden ist ein Eisbrecher für die Umsetzung amerikanischer Zustände in Deutschland. Unsere Politiker steuern durch ihre Gesetzgebung und dem Ruf nach dieser integrierten Versorgung seit Jahren schon genau dorthin!
Wie äußert sich das?
Schauen sie sich doch einmal um: Das erwähnte Beispiel Krebserkrankung. Bestimmte Krebsmittel zahlt die Kasse einigen Krebskranken gar nicht mehr. Im Klartext: Sie können Krebs haben und vom Arzt extrem geringe Überlebenschancen attestiert bekommen, dann haben sie einfach Pech gehabt: Es wird gar nicht erst versucht, sie wieder gesund zu kriegen. Aber Krankheit und Armut können jeden treffen. Darüber müssen wir uns klar sein, und eine Antwort auf die Frage nach dem richtigen Umgang damit finden. Und wir dürfen es nicht auf der Ebene diskutieren, wie es der ehemalige Hamburger Justizsenator Kusch tut, wenn er im Fernsehen die Sterbehilfe in einem Tonfall diskutiert, als ginge es um auszuwechselnde Glühbirnen! Da dreht sich mir der Magen um. In so einer Gesellschaft möchte ich nicht, dass meine Enkelkinder groß werden: Deshalb wehre ich mich und ich bin längst nicht mehr allein!
Der Zustand unseres Gesundheitssystems ist für sie also ein sichtbares Symptom einer tiefer liegenden Haltung unserer Gesellschaft zum Menschen und seiner Würde?
Absolut. In dieser Gesundheitsdiskussion zeigt unsere Gesellschaft ihre Fratze. Wenn ich mir vorstelle, dass eine Frau in Würzburg sich von einem Selbstdarsteller wie diesem Kusch beim Sterben filmen lässt, mit dem einzigen Argument, dass sie Angst vor dem Pflegeheim hat! Wie weit wir gekommen sind, dass ein allein stehender Mensch mit 79 Jahren absolute Panik bekommt, beim Gedanken nichts mehr wert zu sein. Der Mensch wird bewertet, nach dem was er für die Gesellschaft leistet.
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